Am Freitag gab es eine Weltpremiere. Die ESA hatte zur Feier des zwanzigsten Geburtstags ihrer Mission „Mars Express“ einen „Livestream vom Mars“ eingerichtet. Eine Stunde lang wurde alle 50 Sekunden die jeweils aktuelle Perspektive der Marssonde auf den roten Planeten für die Öffentlichkeit bereitgestellt und kommentiert. Die Bezeichnung „Livestream“ mochte dabei allerdings aus zwei Gründen etwas irreführend sein.
Erstens: Es passierte im Grunde nichts. Mars Express umrundet den Planeten auf einer elliptischen Bahn, die zwischen 330 und 10530 Kilometer von der Oberfläche entfernt ist. Man sah die helle Marssichel insofern aus recht großer Distanz, aber kaum Oberflächendetails. Von einem Livestream im engeren Sinne hätte man sich vielleicht mindestens einen Marssturm erhofft. Stattdessen wanderte der Mars in der eine Stunde dauernden Übertragung nur langsam von rechts nach links durchs Bild. Einmal gab es immerhin eine Bildstörung, die allerdings nichts mit dem Mars selbst zu tun hatte: Eine Empfangsstation nahe Madrid war angeblich durch schlechtes Wetter gestört worden. Das war aber schnell behoben, und der Mars zeigte sich wieder unverändert in ruhiger und erhabener Sichelschönheit.
Zweitens: Normalerweise verbindet man einen Livestream damit, dass man ohne wesentliche Zeitverzögerung das sieht, was sich anderswo zuträgt. Einen Livestream vom Mars würde man insofern wohl mit der Frage einschalten, was jetzt gerade auf dem Mars passiert. Die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit macht einem da aber natürlich einen Strich durch die Rechnung. Der Mars ist von der Erde durchschnittlich 225 Millionen Kilometer entfernt, am Freitag betrug die Distanz 301 Millionen Kilometer. Das Licht brauchte 16 Minuten und 44 Sekunden, um vom Mars Express zur Erde zu kommen. Der Livestream zeigte insofern den Mars, wie er vor dieser Zeitspanne ausgesehen hatte – oder anders gesagt: er war so „live“ wie physikalisch möglich.
Abgesehen davon, dass uns so mal wieder vor Augen geführt wurde, dass wir uns mit zukünftigen Bewohnern einer potentiellen Marskolonie, statt lebhaft zu telefonieren, auf das Hin- und Herschicken von Sprach- oder Videonachrichten beschränken müssen (was die jüngere Generation ja ohnehin schon jetzt und auf der Erde so handhabt), eröffnete dieser Livestream damit mal wieder eine interessante Perspektive auf das Konzept der Gleichzeitigkeit – das uns im Alltag ja so völlig unverdächtig vorkommt.
Denn tatsächlich haben wir das Problem der zeitverzögerten Wahrnehmung ja jederzeit. Wenn mein Gesprächspartner zwei Meter entfernt steht, sehe ich ihn so, wie er vor knapp sieben Nanosekunden aussah. Und auf den Ton muss ich noch länger warten, wenn er etwas sagt: sechs Millisekunden. Das ist natürlich nicht übermäßig tragisch. Auch nicht, dass ich den Feldberg im Taunus aus dem Fenster in seinem Zustand vor 0,07 Millisekunden sehe. Für uns Menschen macht das keinen Unterschied. Es ist aber interessant, dass uns dadurch das Konzept der Gleichzeitigkeit ein Stück weit verloren geht. Gleichzeitige Ereignisse müssen wir strenggenommen erst durch eine Messung identifizieren.
Das macht man durch Uhrensynchronisation: Dafür müsste ich auf mittlerem Weg zwischen den zu synchronisierenden Uhren ein Lichtsignal aussenden, etwa mittig zwischen Mars und Erde, und beide Uhren bei Ankunft des Signals – am Freitag 8 Minuten 22 Sekunden nach Aussendung des Signals – starten. Alles, was daraufhin zu einem Zeitpunkt passiert, an dem beide Uhren das Gleiche anzeigen, ist auf Mars und Erde gleichzeitig. Das ist die instrumentelle Definition der Gleichzeitigkeit der Relativitätstheorie. Wenn ich jetzt aber berücksichtige, dass die Lichtgeschwindigkeit konstant ist, egal wie ich mich relativ zum Lichtsignal bewege, wird klar, dass das eine sehr flexible Gleichzeitigkeit ist. Wenn ich etwa, anders als vorher, annehme, dass ich mich nicht mehr mit dem Mars-Erde-System mitbewege, sondern mir (und dem Ausgangspunkt des Lichtsignals) der Mars entgegenkommt, muss das Lichtsignal bis zum Mars eine weniger lange Strecke zurücklegen. Es erreicht die Marsuhr schon früher als bei der Messung zuvor. Das heißt: Auf dem Mars sind plötzlich andere Ereignisse gleichzeitig zu denen auf der Erde als vorher.
Sich das vorzustellen, finde ich jedes Mal wieder gleichermaßen schwierig wie faszinierend. Beim System Mars-Erde spielt dieser relativistische Effekt praktisch keine Rolle, dafür sind die beteiligten Geschwindigkeiten zu klein. Aber auf den Kosmos insgesamt bezogen ist die Konsequenz tatsächlich radikal: In der modernen Physik gibt es keine absolute Gegenwart mehr. Verschiedene Messungen definieren verschiedene Ereignisse als gleichzeitig. Wenn wir sagen: „Ich frage mich, was jetzt gerade in der Whirlpool-Galaxie passiert“, ist das im Grunde eine sinnlose Frage. Jeder Beobachter besitzt seine eigene Gegenwart, und auch seine eigene Vergangenheit und Zukunft. Was das für die Frage nach der Existenz historischer Ereignisse heißt (existiert wirklich nur das Gegenwärtige? Oder das Vergangene und das Gegenwärtige? Oder immer bereits das gesamte Universum?), ist eine Überlegung, die direkt in die Philosophie der Zeit hineinführt.
Da muss man sich an einem pollenbelasteten Frühsommertag vielleicht gar nicht unbedingt hinbewegen, um die große Faszination zu erahnen, die sich aus der Interpretation der relativistischen Raumzeit ergibt. Aber während der nächsten kosmischen „Live-Übertragung“ kann man sich mit solchen Gedanken zumindest die Wartezeit überbrücken, bis endlich mal etwas passiert – und sei es auch nur ein irdisches Unwetter.
Sibylle Anderl, Montagsblock /224
05. Juni 2023