Treffen sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner vor einem Spiegel? Jeder schaut auf sich selbst, wohin auch sonst? Alle drei haben alles im Griff. Drei Grinser grinsen selbstsicher um die Wette. Scholz herab, Habeck hinauf und Lindner ins Nichts. Scholz weiß um das leicht Verachtungswürdige in seinem Lächeln. Habeck verlässt sich auf das Spitzbübische und Lindner fingiert bleierne Schwere. Die plötzliche Macht hat Furchen in ihre Gesichter gezogen. Kein Blick in den Spiegel bedroht sie.
Haben Sie heute morgen auch schon in den Spiegel gesehen? Wahrscheinlich ja. Am Hemd oder Pullover gezupft, über Gesichtsfalten gestrichen, lästige Haare aus der Stirn gestrichen. Der Spiegel zeigt uns einerseits, was wir sehen möchten. Wir sind bisweilen erfolgreich, schön und glücklich, wir haben das Leben fest im Griff. Gleichzeitig aber meiden wir den Anblick dessen, was zu sehen uns ängstigt. Wir haben womöglich Existenzangst, fürchten uns vor dem Älterwerden und sind nicht mehr Herr oder Frau unseres Lebens.
Im Spiegelbild treffen sich zwei Kräfte: die narzisstische Omnipotenz und die Realität. Das Gefühl, alles, inklusive sich selbst, im Griff zu haben, trifft auf das Gefühl nagender Selbstzweifel. Im Spiegelbild erkennen wir die Grenzen unseres Selbst. Dieser Prozess fängt bereits im Kindesalter an. Im Spiel lassen Kinder ihr Spiegelbild ständig verschwinden und wieder auftauchen. Sie tasten sich fortwährend an ihr Selbst heran. Die Gratwanderung zwischen Allmachtsfantasie und Realität dauert indes ein Leben lang. Verzerrte Spiegelbilder verzücken und erschrecken uns gleichermaßen.
Um das auszuhalten, möchten wir dem Spiegel ein Schnippchen schlagen. Rollenwechsel 1: Als Hochstapler stellt der Mensch eine Fassade seiner selbst zur Schau und führt damit sein Publikum in die Irre. In der gesteigerten Form legt er sich eine falsche Identität zu und gibt sich für jemanden anderen aus. Vor allem aber glauben Hochstapler, mit Hilfe der Fantasie der Realität ein Schnippchen schlagen zu können. Rollenwechsel 2: Als Narr spielt der Mensch den Unwissenden und stellt absichtlich naive Fragen. Er ist das Gegengewicht zur Macht, die er zu entlarven versucht. Rollenwechsel 3: Als Machtgierling häuft man Macht an, bis die Wahrnehmung nicht mehr trügt und die eigene Bedeutung schwerer ist als jeder mögliche Zweifel.
Alle drei Varianten werden heutzutage bewundert, selbst wenn ihre Protagonisten herumscholzen, habeckern oder lindnern. Doch keine Lernkurve ist so weit weg, dass man sie nicht befahren könnte. Dort suchen wir den Ausgleich zwischen Ohnmacht und Allmacht, den Ausgleich zwischen Fantasie und Realität und den Ausgleich zwischen Narzissmus und Verzicht. In diesem Sinne kann jeder von uns in Richtung einer ausgeglichenen Persönlichkeit streben. Oder wie es Sigmund Freud einmal genannt hat: Ein normaler Mensch ist jemand, der lieben und arbeiten kann. Er ist jemand, der menschliche Bindungen eingehen und Beziehungen zu anderen aufbauen kann. Der sich permanent über den doppelgesichtigen Charakter der Machtwahrnehmung bewusst ist. Denn sie kann gleichermaßen konstruktiv wie destruktiv wirken.
Der hochverehrte Psychoanalytiker Manfred Kets de Vries schlussfolgert deshalb, dass ein erfolgreiches Leben auf der Synchronizität von Machtfülle und freiwilligem Machtverzicht beruhe. Auf Geben und Nehmen, „auf Empathie, auf der Fähigkeit zuzuhören sowie auf der Bereitschaft, Dinge und Sachverhalte unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und zu verstehen.“ Die besten Menschen sind demnach jene, welche die Launenhaftigkeit der Macht durchschauen und ihren Verlockungen widerstehen. Sie managen sich selbst und helfen anderen dabei, dies zu lernen.
Treffen sich Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner vor einem Spiegel? Jeder schaut auf den anderen, wohin auch sonst? Alle drei verlassen sich aufeinander. Drei Lächler lächeln unsicher. Scholz weiß um seine Überheblichkeit. Habeck spürt, es nicht allen recht machen zu können, und Lindner lässt den Wahrheitsapostel einfach mal sausen. Die plötzliche Ohnmacht hat die Furchen in ihren Gesichtern etwas geglättet. Jeder Blick in den Spiegel ist wohlwollend auf den anderen gerichtet.
Schönen Feiertag allüberall!
Peter Felixberger, Montagsblock /223
29. Mai 2023