Zwei Probleme treiben die Wissenschaftsphilosophen um, wenn sie über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaften nachdenken: Das Rationalitätsproblem, also die Frage, was wir überhaupt und aus welchen Gründen wissen. Und das Realismusproblem, also die Frage, welche Dinge in der Welt existieren und ob sie mit dem übereinstimmen, was wir theoretisch über sie aussagen. Das ist der Ausgangspunkt in Ian Hackings „Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften“ – Originaltitel: Representing and Intervening – von 1983. Beide Probleme sind auch 40 Jahre später aktuell, wobei sich die öffentliche Diskussion stärker um ersteres dreht, als dass die Realismusfrage besonders thematisiert würde. Dass beides eng zusammenspielt, ist bei etwas genauerer Betrachtung aber klar. Wer etwa behauptete, es gebe gar kein neuartiges Coronavirus, der verband das gemeinhin mit dem Vorwurf, die Wissenschaft sei irrational und es gebe keine Belege für die Behauptungen im Kontext der forschungsbasierten Pandemiebekämpfung (und andersherum).
Wie schwer es aber fällt, aus einem solchen Skeptizismus argumentativ auszubrechen, haben wohl viele von uns erlebt. Wer einmal eine alternative Beschreibung der Welt für sich gefunden hat, andere Belege für wichtig hält als diejenigen, die von den meisten Wissenschaftlern als ausschlaggebend gesehen werden, mit dem ist eine Verständigung schwer möglich. Nach Hacking ist dieses Problem eines, das sich aus der menschlichen Freude am (sprachlichen) Darstellen natürlicherweise ergibt. „Wir schaffen öffentliche Darstellungen, bilden den Begriff der Realität, und sobald sich die Anzahl der Darstellungssysteme vermehrt, werden wir zu Skeptikern und formen den Gedanken der bloßen Erscheinung.“ Sobald wir merken, dass es erstaunlich gut funktioniert, die Dinge auch ganz anders zu beschreiben, stellt sich die Frage, welche Darstellung „wahr“ ist. Dann trennt sich die Darstellung von der Welt ab, und wir verlieren die Idee eines eindeutigen Bezugs auf die Dinge.
Ian Hacking hat für dieses Problem eine Lösung entwickelt, die ihn in der Wissenschaftsphilosophie bekannt gemacht hat. Er hat neben den Begriff des „Darstellens“ den des „Handelns“ gestellt, um Wissenschaft und insbesondere wissenschaftlichen Realismus zu verstehen. Theorien, Gedankengebäude, rationales Argumentieren sind demnach unvollständig ohne die Möglichkeit, mit den Gegenständen der Wissenschaft experimentell zu interagieren. „Nicht wie wir denken, sondern was wir tun, gibt in der Philosophie letztendlich den Ausschlag.“ Damit tritt für Hacking das Realismusproblem vor das Rationalitätsproblem, denn „unsere Realitätsvorstellungen werden aufgrund unserer Fähigkeit zur Weltveränderung gebildet“. Und wo vorher noch Verwirrung herrschte, was wir rational als wahr annehmen sollen, tritt unsere Fähigkeit, mit der Welt zu interagieren nun als Helfer auf den Plan: „Als wirklich werden wir gelten lassen, was wir benutzen können, um in der Welt Eingriffe vorzunehmen, durch die wir etwas anderes beeinflussen können, oder was die Welt benutzen kann, um uns zu beeinflussen.“
Hackings bekanntestes Beispiel sind die Elektronen, deren Realität lange kontrovers diskutiert wurde. Denn wer hat je ein Elektron gesehen? Könnten Elektronen nicht bloße theoretische Hilfswerkzeuge sein, um direkt beobachtbare Phänomene einfach und bündig beschreiben zu können? Hacking verneint das und glaubt an die Realität von Elektronen: Denn wir können mit ihnen Mikroskope bauen, Fernseher betreiben, Sie in Gase schießen, die daraufhin zu leuchten beginnen. Und all das können wir in vorhersagbarer und kontrollierbarer Weise. All unsere Interaktionsmöglichkeiten verschaffen uns ein konsistentes Bild: Wenn wir sie versprühen können, sind sie real.
Das Argument ist für mich in mindestens zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen hat es mich als nicht experimentierende Astrophysikerin natürlich lange umgetrieben, dass Hackings Kriterium den Kosmos ausschließt, wenn es um begründete Realismusansprüche geht. Denn wer hat je Neutronensterne versprüht? Die Astrophysik ist entsprechend ein schönes Beispiel dafür, dass das Kriterium einer sehr gründlichen Definition bedarf. Weniger scheint es darum zu gehen, dass man die fraglichen Objekte direkt manipulieren kann. Vielmehr ist wohl entscheidend, dass man in der Lage ist, ihre kausale Wirkung, so wie wir sie verstehen, gezielt einsetzen zu können. Beispielsweise, indem man ein Schwarzes Loch anhand seiner Gravitationswirkung wie ein gigantisches Linsenteleskop dafür nutzt, ferne Objekte besser beobachten zu können.
Aktuell mag aber noch ein zweiter spannender Aspekt ins Auge fallen, und zwar aber die hier im Montagsblock in den vergangenen Wochen bereits ausführlich diskutierte Frage, welchen Weltbezug Künstliche allein auf Sprache zugreifende Intelligenzen besitzen können. Hackings Thesen im Kontext des „Grounding“-Problems der KI zu lesen, eröffnet in dieser Diskussion noch einmal eine neue Dimension und zeigt, wie tiefgehend philosophisch sie tatsächlich ist. Wenn Hacking Recht hat, würde es nämlich tatsächlich einen fundamentalen Unterschied ergeben, ob eine KI nur „darstellend“ sprachliche Informationen über die Welt verarbeitet, oder ob sie „handelnd“ mit ihr interagieren kann, um Hypothesen zu testen und sich so ein konsistentes Bild von der Umwelt zu schaffen – und sei es vielleicht auch nur in einer virtuellen Realität.
Ian Hacking ist am vergangenen Mittwoch, den 10. Mai, im Alter von 87 Jahren verstorben.
Sibylle Anderl, Montagsblock /221
15. Mai 2023