Montagsblock /220

In memoriam. Für mich war Gerhard Roth immer ein Vorbild. Jedes Gespräch mit ihm eine intellektuelle Bereicherung. Und ein Wink, nie den universalistischen Pfad zu verlassen. Etwa 2008, als ich mit ihm ein Interview für das Magazin „brand eins“ führen durfte. „Schlaue denken wenig nach“ war der Titel des Gesprächs. Und darin erklärte er, warum und wie das Oberstübchen belohnt werden muss, um sich überhaupt einmal anzustrengen.

Höchstleistung, so Roth, entscheide sich im Arbeitsgedächtnis im oberen Stirnhirn. Dort werden die neuen kognitiven, emotionalen und motorischen Probleme geprüft und im Verbund mit dem Langzeitgedächtnis gelöst. Intelligenz sei deshalb nichts anderes als die „Verarbeitungsgeschwindigkeit und -kapazität des Arbeitsgedächtnisses“. Das Problem ist nur: Das Stirnhirn reicht nicht. Menschsein ist mehr als der Gehirnabdruck im Labor.

Hinzu kommen nämlich weitere Faktoren wie Motivation, Ausdauer und Fleiß. Letztere werden aber in den limbischen Zentren außerhalb der Großhirnrinde geprägt. „Hierzu gehört der Mandelkern (Amygdala) und das mesolimbische System, die beide das gehirneigene Belohnungs-und Belohnungserwartungssystem darstellen und in denen auch das emotional-motivationale Erfahrungsgedächtnis sitzt. Diese Zentren beeinflussen über Stoffe wie Dopamin und endogene Opiate die Arbeitsweise unserer kognitiven und motorischen Gebiete in der Großhirnrinde.“

Komplexe Sache also. Außerdem, dass das Gehirn nicht so ohne weiteres mitspiele, da es jede Anstrengung vermeide. „Je weniger intelligent, je ungeübter und unwissender man ist, desto mehr muss das Gehirn sich anstrengen, und umgekehrt. Das hängt mit den neurobiologischen und stoffwechselphysiologischen Grundlagen des Denkens und Problemlösens zusammen: Je mehr wir uns geistig oder körperlich anstrengen müssen, desto mehr Zucker und Sauerstoff wird verbraucht.“ Intelligent sei ein Mensch nur dann, wenn er seine Hirnleistung auf Sparflamme laufen lässt. Sozusagen alles mit links löst. Blöderweise gilt deshalb auch: „Wer nicht so intelligent ist, muss mehr und mühsamer denken.“

Oder im März 2018, als ich moderierend mit Gerhard Roth einen Abend im Salon Luitpold verbringen durfte und er unter anderem den Appell ans Publikum sendete, jeder Naturwissenschaftler müsse etwas von der Philosophie verstehen. Interdisziplinarität? „Das ist unabdingbar, sonst redet man aneinander vorbei.“ Und Roth fügte hinzu, er habe immer Hoffnung, dass Intelligenz nicht nur die Klügsten, sondern auch die weniger „Hirnigen“ bereichern könnte. Problem: Geistige Leistungen sind für nicht so intelligente Menschen anstrengender. Da das Gehirn aber genau das grundsätzlich vermeiden will, müssen Menschen sich motivieren und aufraffen. „Bewunderung verdienen Personen, die sich aufgrund geringerer Talente extrem anstrengen müssen, aber mit Fleiß und Ausdauer viel erreichen. Fleiß, Ausdauer und Motivation können Intelligenz zum beträchtlichen Teil ersetzen.“

Auf die Frage, wie sich ein Gehirnforscher geistig fit halte, hat mir Roth damals geantwortet: „Das Beste ist, sich mit ganz verschiedenen Problemen und Problembereichen zu beschäftigen, sodass man immer geistig herausgefordert wird. Das habe ich selbst immer so gemacht, mich zum Beispiel gleichzeitig mit geistes- und naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt. Wichtig ist auch eine Mischung zwischen eher abstrakten und eher konkreten Problemen, zum Beispiel hochwissenschaftlichen Fragen und praktischer Laborarbeit. Die Kunst ist, solche deutlichen Herausforderungen nicht zum starken Stress werden zu lassen, der geistige Tätigkeit lähmt. Man muss die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit sowohl testen als auch respektieren. All das muss ergänzt werden durch körperliche und musische Aktivitäten, bei mir Sport zweimal die Woche sowie Musik – aktiv und passiv – zwei Stunden am Tag. Und interessante Gespräche mit Freunden.“

In einem Intermezzo für das Bildungskursbuch vor fünf Jahren beschrieb Roth seine Kindheit im Internat als schikanöse, existenzielle Erfahrung. Verprügelt wurden die jüngeren von den älteren Mitschülern. Die Lehrer sahen zu, aus Angst. „Sie holten uns aus dem Studiersaal und verhauten uns auf dem Flur. Allerdings waren es weniger die Blessuren, die wir dabei abkriegten, sondern die ständigen Bedrohungen, die zur Obsession wurden.“ Das habe ihn für das spätere Leben geprägt. Von den Eltern kam wenig bis keine Unterstützung. Der junge Gerhard musste sich selbst über Wasser halten. „Ich stand jetzt in offener Opposition zu meinen Eltern, insbesondere, als sich nach und nach herausstellte, dass die sittenstrenge katholische Haltung, die sie an den Tag legten, überwiegend geheuchelt war. Ebenfalls hatte ich bereits in Fulda dasselbe über Vertreter der katholischen Kirche herausbekommen. Beides schockierte mich nachhaltig. Ich machte schließlich als Jahrgangsbester das Abitur am Friedrichsgymnasium und entfloh endgültig der Kindheit in Kassel und Fulda. Zwei Grunderfahrungen habe ich damals gemacht. Erstens: Steh für dich selbst ein und rechne nicht auf uneigennützige Hilfe durch Andere! Zweitens: Vertraue niemals Autoritäten ohne hinreichende Überprüfung. Letztere Grunderfahrung ist das Grundprinzip der Wissenschaft, der ich mich fortan ein Leben lang gewidmet habe. Und ich habe vor allem in meinem Privatleben und ein wenig im Berufsleben das große Glück gehabt, zu erfahren, dass es Ausnahmen von diesen Grunderfahrungen gibt, nämlich uneigennützige Hilfe in Form von Freundschaft und Liebe.“

Gerhard Roth ist am 25. April, wie erst diese Woche bekannt wurde, achtzigjährig verstorben. Auf die Frage: Was ist der Mensch? wusste er mehr als viele andere.

Peter Felixberger, Montagsblock /220

08. Mai 2023