Montagsblock /213

Ökonomische Bilanzen werden oft durch eine Waage symbolisiert. Die Bilanz enthält alle (geldwerten) Einkünfte, Ausgaben, Vermögen, geldwerte Rechte an Sachen, Außenstände, Forderungen, Verbindlichkeiten, Schulden usw. Es gibt eine positive und eine negative Seite, und am Ende kann man, wenn die Bilanz gut geführt wird, aus der Bilanz ablesen, wie es zu einem positiven oder negativen Ergebnis gekommen ist.

Aufmerksamkeitsökonomische Bilanzen sind nicht so einfach zu erstellen. Hat die ökonomische Ökonomie ein messbares, zählbares, konvertierbares Medium, das Geld oder den Geldwert nämlich, ist das Medium der Aufmerksamkeitsökonomie nicht in derselben Weise konvertierbar, übertragbar, speicherbar und berechenbar. Aufmerksamkeit ist eine Währung, die stark zeitgebunden ist – was heute Aufmerksamkeit erlangt, hatte es gestern womöglich noch nicht. Aufmerksamkeit ist an konkrete Zeiten gebunden, sie spielt mit etwas, das einen Unterschied macht, also einen Informationswert erzeugt. Und den hat es nur dann, wenn es auch wirklich einen Unterschied macht.

Gut ablesen lässt sich dies derzeit an der besonderen Aufmerksamkeit für Impfschäden, sicher auch ausgelöst durch öffentliche Aussagen des Bundesgesundheitsministers, der womöglich aus politischen Gründen davon ablenken wollte, dass ihm gleichzeitig Verfehlungen in jungen Jahren vorgeworfen wurden. Ob diese Vorwürfe substantiell sind oder nur eine Kampagne, muss hier offen bleiben.

In weniger als einem von 10.000 Fällen sei es zu schweren Impfschäden gekommen, hieß es in der Stellungnahme – und die Folge ist eine mediale Aufmerksamkeit auf ein Thema, von dem man nun behaupten kann, dass es zuvor keine Rolle gespielt habe, was eben auch daran liegt, dass es sich auf dem Aufmerksamkeitsmarkt nicht durchsetzen konnte. Sieht man sich die Verlautbarungen der zuständigen Behörden an, so kann auch der Laie schnell recherchieren, dass die 192.000.000 Impfdosen in Deutschland an knapp 64.000.000 Menschen keineswegs zu 19.200 schweren Impfschäden geführt haben.

Bis 1. Februar 2023 sind in Deutschland 253 Fälle von schweren Impfschäden behördlich anerkannt worden, und das bei ca. 6.000 Anträgen – schwere Impfschäden wie eine Herzmuskelentzündung, Sinusthrombosen oder die Nervenerkrankung Guillain-Barré-Syndrom. Davon zu unterscheiden sind erwartbare Impfnebenwirkungen, die keine bleibenden Schäden hinterlassen und bei Impfungen immer wieder vorkommen. Dass es zu schweren Impfnebenwirkungen kommen kann und sie auch im Fall der unterschiedlichen Corona-Impfungen aufgetreten sind, ist erwartbar, und glaubt man den entsprechenden Studien, gehören die in kürzester Zeit entwickelten Corona-Impfstoffe im Vergleich zu anderen Impfstoffen, die erheblich länger entwickelt und immer wieder angepasst wurden, nicht zu denen mit einer signifikant hohen Rate an schweren Folgen.

Das Verhältnis zwischen der Meldung von Impfnebenwirkungen und der entschädigungsrelevanten Anerkennung ist im Falle von Corona-Impfungen keineswegs höher als bei anderen Impfungen. Laut einer Stichprobenstudie des Paul-Ehrlich-Instituts liegt bis Oktober 2022 die Melderate für schwere Impfnebenwirkungen bei 0,29 pro 1.000 Impfungen, insgesamt wurden etwas mehr als 6.000 Anträge gestellt, von denen bis dato 253 (Stand 1.2.2023) bewilligt, ca. 1800 abgelehnt und noch ca. 4.000 bearbeitet werden. Dies zu referieren, dient nur dazu, die Dimension der Verhältnisse zwischen Verdachtsfällen und anerkannten Impfschäden darzustellen. Einer Studie des Paul-Ehrlich-Instituts lässt sich für einen Zeitraum lange vor der Corona-Pandemie entnehmen, dass etwa 15% der Anträge auf Anerkennung von schweren Impfschäden bewilligt wurden. Sieht man genau hin, sind die Auswirkungen der Corona-Impfungen im Rahmen dessen, was man statistisch erwarten konnte – auch entgegen einiger „unglücklicher“ Formulierungen des Bundesgesundheitsministers. Dass konkrete Fälle immer aufrüttelnd und emotionalisierend sind, steht dabei außer Frage – und hier sind wir nun bei der aufmerksamkeitsökonomischen Frage.

So weit ich das als Laie zu beurteilen in der Lage bin, müsste die Bilanz in der Sache vergleichsweise positiv aussehen. Auch wenn man mit der Zeit feststellen musste, dass die Impfungen nicht vollständig vor Infektionen schützen, scheint es doch unstrittig zu sein, dass sie in jedem Falle vor schweren Verläufen schützen und auch die Wahrscheinlichkeit von Long-Covid-Folgen minimieren. Und auch die Tatsache, dass eine ungeschützte Infektion für zum Teil dieselben Krankheitsbilder wie die nach schweren Impfschäden ohne Impfung erheblich wahrscheinlicher ist als mit, lässt eine klare Risikobilanz ziehen. Es ist besser, sich geimpft haben zu lassen, als es nicht getan zu haben. Einen kleinen Schatten bekommt die Bilanz dadurch, dass die Erwartung nicht erfüllt werden konnte, mit der Impfung Ansteckungen zu vermeiden. Das lässt Forderungen nach einer allgemeinen Impfpflicht im Nachhinein als wenig sinnvoll erscheinen, weil die Impfung in erster Linie dem Selbstschutz dient und deshalb der individuellen Entscheidung obliegen sollte. Dass es zu überzogenen Moralisierungen der Impfung und zur Beschimpfung prominenter Nicht-Geimpfter kam, ist von der Wortwahl her zum Teil beschämend. Aber dass eine hohe Impfquote in der Bevölkerung dennoch besser ist als eine niedrige, wird wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten. Aber rechtlich wäre es wohl schwierig geworden.

Habe ich mein Thema verfehlt? Ja, offensichtlich, denn die fachliche und sachliche Bilanz war ja gar nicht gefragt – über die man dann durchaus fachlich und sachlich kontrovers diskutieren kann. Womöglich stellen sich manche Details anders dar. Aber es sollte ja um die aufmerksamkeitsökonomische Bilanz gehen.

Für die üblichen Verdächtigen, die publizistisch und in politischen Auseinandersetzungen ohnehin alles aufnehmen, was man nur zur Delegitimierung von Corona-Maßnahmen in Anspruch nehmen kann, wird anders bilanziert. Denn auf der Haben-Seite steht nun die Anschlussfähigkeit eines Themas, bei dem man so tun kann, als sei es bis dato überhaupt nicht bearbeitet worden, als habe man es vertuscht, als könne man nun endlich sehen, wie überzogen alle möglichen Maßnahmen waren – und wie man die Menschen fast bewusst geschädigt hat. Ein bisschen Industrie- und Kapitalismuskritik beigemengt, macht das die ganze Sache noch attraktiver: dass die Unternehmen aus der Haftung entlassen wurden, wird nun umgedeutet – von der rechtlichen Ermöglichung der schnellen Zulassung wirksamer Impfstoffe hin zum Erpressungsvorwurf. Dass die Unternehmen dabei Geld, viel Geld verdient haben, kann nur für diejenigen eine überraschende Information sein, die nicht wissen, welche Rolle die Pharma-Industrie gesundheitsökonomisch ohnehin spielt. Diese Branche ist ein Milliardengeschäft. Das wussten wir schon.

Es ist relativ leicht erklärlich, dass die sachliche Bilanz und die aufmerksamkeitsökonomische Bilanz unterschiedliche Gegenstände haben. Genau genommen ist der öffentliche Diskurs über die Corona-Pandemie und die entsprechenden staatlichen Maßnahmen gar nicht an sachlichen Bilanzen interessiert, sondern gruppiert sich um einen Konflikt, der so stabil ist, dass er jede Äußerung der einen oder der anderen Seite zuordnet und man sich kaum mit Grauschattierungen und Abwägungen in die Öffentlichkeit wagen kann, weil alles entsprechend aufgesogen wird – manichäisch nennt man so etwas dann gerne.

Jedenfalls gelingt es dadurch, dass das Thema Impfnebenwirkungen/-schäden nun in der Öffentlichkeit ist, auch dieses Thema dem Konfliktsystem unterzuordnen. Und interessanterweise gilt das für beide Seiten des Konflikts. Dass der Bundesgesundheitsminister tatsächlich „nebenwirkungsfreie“ Impfungen versprochen hat, ist ein sachlicher Fehler – wohl auch entstanden in einer Situation, in der die andere Seite die Impfung ohnehin für Teufelszeug hält – aus strategischen oder aus sachlichen Gründen, ist egal. Wahrscheinlich sind diejenigen, die die großen Kampagnen dagegen gefahren haben, ebenso durchgeimpft gewesen wie ihre Antipoden.

Die Bilanz der Aufmerksamkeitsökonomie zeigt, dass die Aufmerksamkeit dann am stärksten ist, wenn man sich um die Sache kaum scheren muss. Und wer mit relativ robusten Zahlen kommt, wird mit der Allzweckwaffe der „fehlenden Daten“ beschossen – übrigens werden die deutschen Zahlen, wie sie das Paul-Ehrlich-Institut in seinen Berichten veröffentlicht, von internationalen Daten bestätigt. Die Nebenfolgen der Impfung stellen sich, so weit ich sehen kann, auch in anderen Ländern ähnlich dar – und es wäre merkwürdig, wenn es nicht so wäre.

Am Beispiel der Aufregung um die Impffolgen lässt sich studieren, wie schlecht die Voraussetzungen dafür sind, die Folgen der Corona-Pandemie ernsthaft aufzuarbeiten. Einer Seite, die ohnehin – ich habe schon öfter darauf hingewiesen – in allem nur ein Exerzitium in Illiberalität vermutet und damit die letzten Klickraten und Zeitungsverkäufe aufrechterhält, steht eine andere gegenüber, die in jeder Kritik eine Grundsatzkritik vermutet, weil eben das Konfliktsystem so gefräßig ist und alles aufnimmt. Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert, bis den schweren Impfschäden Aufmerksamkeit zukommt.

Gerne sind es die Schwurbler, die von „Versöhnung“ und „Aufarbeitung“ reden, aber anderes im Sinn haben – ich fände es dagegen sehr lohnend, manche Fehler wirklich zu reflektieren. Unter welchen Bedingungen wäre eigentlich folgende Diagnose möglich? Die Erwartungen und die Ergebnisse der Impfung divergieren, da die Impfung Infektionen und Reinfektionen nicht verhindern konnte. Das dürfte manche Rechenmodelle in Frage stellen, die von höheren Impfquoten anderes erwartet haben. Und dies hätte zu einer Korrektur einiger Strategien führen müssen – von einer verpflichtenden Impfung zu einer Strategie, die die Menschen dennoch zu einer hohen Impfbereitschaft bringt, durch Kampagnen und Überzeugung, nicht durch Moralisierung. Hier hat es Übertreibungen gegeben – was womöglich auch eine Gegenreaktion gegenüber einer spezifisch deutschen Impfskepsis war, denn ähnliche Diskurse hat es in anderen Ländern erheblich weniger gegeben. Und doch ist die Impfung ein Erfolg, weil sie der Ansteckung die Drastik genommen hat, schwere Verläufe minimiert hat und eine relative Grundimmunität ermöglicht hat. Im Vergleich zu anderen Impfungen ist die Corona-Impfung trotz der kurzen Entwicklungszeit nicht gefährlicher und erzeugt keine höheren und drastischeren Nebenwirkungen, so drastisch Einzelfälle in jedem Falle sind. Deshalb ist die Aufmerksamkeit, die schwere Impffolgen gerade bekommen, keine Rechtfertigung für eine generelle Kritik der Impfkampagne.

So oder so ähnlich wäre es eine Form einer sachlichen Bilanz – die aufmerksamkeitsökonomische aber sieht nur, dass mit der gesamten Corona-Strategie abgerechnet werden muss. Die fachlich verunglückte Formulierung des Bundesgesundheitsministers ist ein Fehler – und selbst ein aufmerksamkeitsökonomisches Ereignis. Wäre man wohlwollend, würde man sagen: Er meint damit, dass sich diese Impfung in einer ähnlichen Risikoklasse bewegt wie andere Impfungen auch, die es kaum über die Aufmerksamkeitsschwelle schaffen. Wäre man weniger wohlwollend, würde man sagen, dass ein solcher Satz einem Mediziner nicht passieren sollte. Wie auch immer – daraus nur Futter für die Pro- und die Contra-Seite des Konflikts zu machen, unterschreitet die sachlichen Aspekte. So einfach ist die Welt nicht – aber so einfach ist die Aufmerksamkeitsökonomie.

Es sind tatsächlich manche Maßnahmen überzogen gewesen, manche vielleicht auch nicht konsequent genug. Wir wussten lange viel zu wenig über Ansteckungswege und Folgen der Maßnahmen – auch weil es zu wenig gezielte Forschung dazu gegeben hat. Wir schauen mit dem Wissen von heute auf manche Entscheidung, die man wohl anders getroffen hätte. Man würde manche sachliche und fachliche Bilanz wohl heute etwas relativieren – vielleicht auch nicht. All das wäre zu prüfen. Man wird auch in Rechnung stellen müssen, wie schwierig es war, unter Bedingungen der Unsicherheit und des Nicht-Wissens zu entscheiden, ganz abgesehen davon, dass manche negative Folge für bestimmte Gruppen der Gesellschaft schädlicher war als antizipiert. Und man wird feststellen, dass Vieles genau richtig gelaufen ist.

Es wäre gut, solche Bilanzen ziehen zu können, die sich dem gefräßigen Konfliktsystem entziehen. Aber eine aufmerksamkeitsökonomische Bilanz kennt nur die Währung Aufmerksamkeit. Die Chancen, aus der Pandemie irgendetwas zu lernen, stehen deshalb sehr schlecht – dabei wäre genau das nötig, auch als Blaupause dafür, wie mit kollektiven Herausforderungen umgegangen werden kann. Leider spielen alle wieder ihre Rollen in einem Drehbuch, das keine Überraschungen kennt. Und so verweise ich schon wieder auf jenes Drehbuch, das Peter Felixberger und ich vor einigen Jahren über öffentliche Debatten rekonstruiert haben.* Oder um es im Oscar-Style zu sagen: Im Westen nichts Neues.

Armin Nassehi, Montagsblock /213

20. März 2023

* Peter Felixberger/Armin Nassehi: Deutschland. Ein Drehbuch, Hamburg 2017.