Im Jahre 1970 hat der US-Historiker Howard Zinn eine Rede gehalten, die sich mit zivilem Ungehorsam beschäftigt und in der Erkenntnis gipfelt: „Unser Problem ist nicht der zivile Ungehorsam. Unser Problem ist der zivile Gehorsam … Unser Problem ist, dass die Menschen gehorsam sind, während … die größten Verbrecher die Staatsgeschäfte führen.“ Dahinter, so Zinn, stehe die Überzeugung, dass es nun wirklich viele gute Gründe gebe, den aktuellen Zustand der Welt und seine Desaster und Katastrophen nicht länger hinzunehmen. Der Pariser Philosophieprofessor Frédéric Gros, der als Herausgeber der Werke Michel Foucaults international geschätzt wird, ergänzt in seinem neuen Buch „Ungehorsam“ (Passagen, Wien 2022): „In einer Welt, in der Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung ein unerträgliches Ausmaß erreicht haben, in der autokratische Regierungen Menschen unterdrücken und rücksichtslos Kriege führen, um ihre Interessen durchzusetzen, wird Widerstand zur dringenden Notwendigkeit.“
Streiken für eine bessere Welt? Streiken für meine bessere Welt? Am heutigen Montag folgen ziemlich viele Menschen in Deutschland zumindest ihrer subjektiven Dringlichkeit und streiken. Sie tun, was ihr gutes Recht ist. Sie zeigen aktiven Ungehorsam, und das ist in unserem Zusammenhang jetzt wichtig, ohne sanktioniert werden zu können. Sie können es, weil ihr Ungehorsam möglich ist. Keiner kann die Streikenden demütigen, entlassen oder sonstwie ausschließen. Der Rest der Gesellschaft – vom Arbeitgeber bis zum Bahnreisenden – muss ertragen, dass die Streikenden sich zusammentun und wenigstens einen Tag ungehorsam sind. Und wir alle müssen aushalten, dass sich an diesem Montag so etwas wie eine andere Objektivität des Wir bilden kann. Ok, passt.
Interessieren aber tut mich etwas anderes: Die Streikenden erzeugen in ihrer Machtdemonstration nämlich eine weitere objektive Beständigkeit, die jenseits des sonstigen konformistischen Gehorsams nach Höherem strebt: sich durchzusetzen. Der Einzelne fühlt sich wenigstens an diesem Montag in der protestierenden Gemeinschaft gesehen, gewürdigt und anerkannt. Hier kann ich sein, was ich im anderen Leben wenig bin. Das große Ganze, formerly known als Gesellschaft, lehnt sich unterdessen zurück, kalibriert die Bildschirme neu und palavert über ausgefallene Schulbusse, verstopfte Einfallstraßen und geplatzte Termine. Was ist schon ein einzelner Tag im Leben? Mit aktiven Ungehorsamist:innen, die kurz auf ihre Miseren hinweisen, bevor sie sich wieder in die ständig bedrohte Balance aus Lebensrealität und -wünschen einreihen. Same as it ever was!
Das ist soziologisch relevant. Denn warum können wir nicht alle dauerhaft aktiv ungehorsam sein? Oder anders gefragt: Warum sind wir permanent eher übergehorsam? Kurz: Warum akzeptieren so viele die Welt, wie sie ist? Und was unterscheidet eigentlich den Ungehorsam dann doch vom Widerstand? Was also könnten wir Howard Zinn antworten, würde er noch leben?
Eine der möglichen Antworten führt in eine Grauzone, die der Pariser Politologe Jacques Semelin aufgeworfen hat. Seine These: Viele Menschen haben sich in einen Nichtangriffspakt zurückgezogen. Man lebt in einer scheinbar unscheinbaren Privatwelt ohne Rebellionsdrang. Mit der Losung einer Nicht-Kooperation in einer Gesellschaft, die ureigentlich einen Vertrag zwischen Gleichen und Freien anbietet. Semelin verweist darauf, wie wirkungsvoll diese verdeckteren Formen des Widerstands sein können: „langsames Arbeiten, kalkulierte Nachlässigkeiten – ein systematischer Schwejkismus“. Konkret: Hier verabschiedet sich ein Teil der Bevölkerung in ein abweisendes Anpassen. Man zeigt so wenig persönlichen Einsatz wie möglich. Es ist, so schreibt Gros, „wie ein Reinigungsprozess, bei dem ich alles zu beseitigen versuche, was meinem Gehorsam einen Anflug von Zustimmung verleihen könnte.“
Sie merken wahrscheinlich, wo es mich gerade hinzieht. Die Frage: Wie kann man gehorchen, ohne zu kollaborieren? ist ebenso schwerwiegend wie die offensichtliche Frage an diesem Montag: Wie kann man nicht gehorchen und weiter kollaborieren? Sicher, der Umgang mit dem aktiven Ungehorsam gehört zur Königsdisziplin in jeder Demokratie. Mit der sämigen Anschlussfrage: Halten die, die über Macht und Ressourcen verfügen, die Kurzzeitrebellion derer aus, die mehr Lohn fordern, um in ihren Worten die Schere zwischen Arm und Reich ein wenig zu schließen. Eine grundsätzliche Abschaffung sozialer Ungleichheit fordert, zumindest diesen Montag, kaum einer von ihnen. Morgen geht’s ja wieder weiter. Schulbus fährt, Bordbistro ist geöffnet.
Kleines Fazit: In beiden Fragen bilden sich jeweils die Konzepte des zivilen Ungehorsams und des zivilen Widerstands ab. Der zivile Ungehorsam kennt die aufbrausende Demonstration des objektiven Wir als kurze rebellische Auszeit. Der zivile Widerstand weiß im Gegensatz dazu um den langen Atem des Subjekts in der verdeckten Missachtung der Regime. Hier liegt der eigentliche politische Sprengstoff. Der eintägige Verkehrsstreik heute ist eher nur eine Routineveranstaltung von Ungehorsamisten in Teilzeit mit gemeinsamen Vorstellungen und normierten Identitäten, die berechen- und vorhersehbar sind. Das Bartlebysche „Ich möchte lieber nicht“ ist womöglich Teil einer neuen Widerstandskultur. Jeden Tag, nicht nur montags. In dieser Welt tun die wirklichen Rebellen am Ende nur so, als hätten sie sich ergeben.
Kommen die gut durch diesen Montag!
Peter Felixberger, Montagsblock /214
27. März 2023