Montagsblock /212

Eine dieser Tage geäußerte Befürchtung im Zusammenhang mit den Erfolgen großer Sprachmodelle ist es, dass deren sich ausbreitender Einsatz mittelfristig zu einer Verarmung von Sprache führen könnte. Denn tatsächlich: Wenn man sich von Seiten künstlicher Intelligenz Formulierungshilfe holt, dann kann das zwar bequem sein und führt zu hübschen Standardformulierungen, die aber gerade nicht durch Kreativität und Individualität bestechen. Sollte dies zur Norm werden, wäre das außerordentlich traurig. Schließlich ist es eine wunderschöne Besonderheit, dass Menschen in der Lage sind, sich in besonderen Begriffen unvergesslich zu machen. Selbst wenn man von diesen Menschen lange nichts gehört hat, sind sie so plötzlich wieder präsent, sobald man den von ihnen mit einer individuellen Marke geprägten Begriffen wieder begegnet.

Beispielsweise hatte ich einmal einen Professor, der gerne von „drehtürartigen Verhältnissen“ sprach, und obwohl ich lange keinen Kontakt zu ihm hatte, kommt er mir in zirkulären Kontexten mit diesem Begriff immer wieder in den Sinn, ohne dass ich jemals wagen würde, diese Beschreibung einfach zu übernehmen und als meinen auszugeben. Beim Wörtchen „gleichsam“ wiederum muss ich immer an einen nahen Verwandten denken, der am Anfang seines geisteswissenschaftlichen Studiums von so einer Begeisterung ergriffen war, dass sein sprudelndes In-Worte-Fassen all seiner neuen Gedanken nur durch dieses hochfrequent wiederkehrende Füllwort in einen halbwegs feuilletonistisch klingenden Rhythmus gezwängt werden konnte. Auch während meines eigenen Studiums gab es eine Phase, in der ich von einem Wort verfolgt wurde. Dieses Wort war „natürlich“ beziehungsweise „of course“. Es begleitete mich insbesondere zu Beginn meines englischsprachigen Promotionsstudiums und war Ausdruck einer großen Unsicherheit, die mich stets denken ließ, ich würde letztendlich nur Trivialitäten von mir gegeben, wenn ich meinen Zuhörern die physikalischen Details interstellarer Stoßwellen erklärte.

Die schönsten Begriffe sind aber diejenigen, die am seltensten sind. Meine Oma nannte mich zärtlich „Du alter Remisenkater“, und obwohl ich keine Ahnung hatte, was ein Remisenkater sein sollte (und das auch nach wie vor nicht klar definieren könnte), fand ich die Vorstellung schön, dass vermutlich nicht viele Menschen von ihren Omas so genannt werden. Überhaupt trägt die Familie meiner Oma in ihrer charakteristischen Familiensprache in besonders starker Ausprägung die Spuren ihrer kriegsbedingten Fluchtgeschichte: Schlesisch, Berliner Mundart und teilweise wohl auch merkwürdige Ausdrücke aus der Region Westdeutschlands, die schließlich in der zweiten Lebenshälfte meiner Großeltern deren neue Heimat werden sollte. Nun sind die beiden lange tot, manche Sprachspuren verblassen leider zusehends und hinterlassen seltsame Rätsel.

So war etwa ein oft gebrauchter Begriff zur Beschreibung eines bestimmten Menschenschlages „Schuss Fuffzig“. Dieser Ausdruck wurde von Mitgliedern der Familie meiner Großeltern immer wieder mit einer so großen Souveränität verwendet, dass offenbar alle nicht der familiären Sprachgemeinschaft Entstammenden davon abgebracht wurden, je nach der Bedeutung dieser Bezeichnung zu fragen. Erst mit Ende Dreißig traute ich mich, meine Eltern zur Verbesserung meines recht schwammigen intuitiven Verständnisses des Begriffes endlich um eine genaue Definition zu bitten, woraufhin mein Vater zugab, er kenne den Begriff im Grunde auch nicht. Die beiden einzigen „Schuss-Fuffzig-Muttersprachlicher“, die es heute noch gibt, beschreiben die Bedeutung so: „Ein Schuss-Fuffzig ist jemand, der alles ganz schnell macht und überall dabei ist.“ Ob das positiv oder negativ ist, ist kontrovers. Am besten ist die Bedeutung einzugrenzen, indem man die beiden nach Beispielen fragt, also konkret, ob eine beliebige Person ein Schuss-Fuffzig ist oder eher nicht (ich bin beispielsweise keiner).

Tatsächlich scheint es diesen Begriff außerhalb der Familie nicht zu geben. Im Internet ist nichts zu finden. Es gibt einen Western „Ein Schuss und 50 Tote“ von 1959. Eine Vorliebe für Western wäre mir in der Familie zwar neu, aber vielleicht müsste ich den Film einmal ansehen, um mir ein Urteil darüber zu erlauben, ob hier eine Spur zu finden ist. Es ist faszinierend, dass der Begriff sich auf diese Weise zusehends in den Bereich einer vermeintlichen Privatsprache bewegt – und sich damit auflöst. Die Situation ist ein schönes Beispiel für Wittgensteins Beobachtung, dass Worte auf ihren Gebrauch in einem geteilten Sprachspiel angewiesen sind. Wenn es irgendwann nur noch einen einzigen Sprecher gibt, erinnert der Begriff an Wittgensteins Gedankenexperiment des Käfers in der Schachtel: „Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte“ – der Käfer kürzt sich raus. Bald wird niemand mehr mit Sicherheit sagen können, wer ein Schuss-Fuffzig ist und wer nicht.

Ich hätte mir den Versuch übrigens sparen können, aber natürlich (!) weiß ChatGPT auch nicht, was ein Schuss-Fuffzig ist: „Die Bezeichnung “Schuss 50” ist mir nicht bekannt und ich konnte auch keine verlässlichen Quellen dazu finden. Es ist daher schwer zu sagen, was es bedeuten könnte, jemanden so zu bezeichnen, ohne weitere Informationen oder Kontext zu haben.“ Wer also weiterhin Begriffe so wahrnehmen und nutzen möchte wie Souvenirs, die von menschlichen Begegnungen und Geschichten erzählen, wird KI bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten besser nur wohldosiert einsetzen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /212

13. März 2023