Montagsblock /211

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett feierte jüngst seinen 80. Geburtstag. An ihn sei heute erinnert (und weil zwischen den Kursbuch-Herausgebern/Herausgeberin seit geraumer Zeit diskutiert wird, wie ein Kursbuch zur sozialen Frage aussehen könnte). Sennett könnte ein möglicher Referenzpunkt sein. Er hat sich lange mit der Frage auseinandergesetzt, warum in modernen Gesellschaften so vielen Menschen Respekt und Anerkennung verwehrt bleibe, obwohl vertragstheoretisch festgelegt ist, dass wir einander als gleich behandeln wollen. Mangelnder Respekt gegenüber Schwachen, Langsamen und Erfolglosen ist indes bis heute Alltag. „Man wird nicht als ein Mensch angesehen, dessen Anwesenheit etwas zählt“, sagt Sennett.

Er wusste, wovon er spricht. Denn Sennett ist in Cabrini Green in Chicago aufgewachsen, einer Sozialsiedlung, in der Schwarze und Weiße wie in einer Enklave zusammenlebten. Cabrini war der Versuch, den Rassenunruhen in den 1930ern zu begegnen. „1942 machten die Behörden armen Weißen ein Angebot: Wenn ihr mit den Schwarzen zusammenlebt, übernehmen wir die Miete.“ Rassenintegration am Reißbrett städtischer Sozialplanung. Ein Jahr später zogen die Sennetts ein, Richard war gerade einmal drei Jahre alt.

Die Bewohner von Cabrini gehörten zu den Verlierern der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Sennett erinnert sich an Bandenscharmützel zwischen schwarzen und weißen Jugendlichen. Und an die behördlichen Versuche, Ordnung von oben zu verordnen. Was aber misslang. Mittels Sozialhilfe wurde Abhängigkeit geschaffen, sie war, so Sennett, sogar ein Synonym für Demütigung. Überdies raubte man den Bewohnern der Cabrini-Siedlung ihre Selbstbestimmung. Die Bewohner „erlebten jenen eigentümlichen Mangel an Respekt, der darin besteht, nicht wahrgenommen und nicht als vollwertige Menschen angesehen zu werden”. Leider aber schafften nur wenige die Flucht aus diesem Dilemma. Wie fast überall in amerikanischen Großstädten.

Sennett gehörte jedoch dazu. Die Mutter, eine Sozialarbeiterin, schaffte rechtzeitig den Absprung, und der Junge begann langsam seine Talente zu entdecken. In neuen Möglichkeitsräumen. Mit mehr Selbstachtung. Die bildungsbürgerliche Biografie war bald programmiert. Richard wird ein guter Cellospieler, erfährt Beachtung und Anerkennung und schwenkt ein in die gutbürgerliche Stube gegenseitigen Respekts. Er gewinnt die Freiheit, sich selbst verwirklichen zu können. Gleichzeitig aber ist es die autobiographische Geburtsstunde sozialer Ungleichheit, denn während Sennett auf dem linearen Erfolgspfad ein international renommierter Soziologe wird, bleiben die anderen in ihrem Milieu kleben. Strampeln vergeblich. Irgendwann übernimmt die Sozialstaatsbürokratie dann die Entfaltung und Lenkung des Einzelnen. Ein Punkt, der Sennett nicht mehr loslässt.

Das Entstehen von Ungleichheit hat Folgen – biografisch und gesellschaftlich. Die Aufstrebenden und die Zurückgelassenen verstehen einander nicht mehr oder nur noch mit großer Anstrengung. Obwohl wie gesagt Heerscharen von Beamten und Sozialarbeitern tagtäglich Brücken zu schlagen versuchen. Es fehle, so Sennett, am wechselseitigen Respekt über die Grenzen der Ungleichheit hinaus. Überdies würden sich Netzwerke bilden, auf die sich die Mitglieder stützen könnten. Schutzräume der jeweiligen Schicht. Man kümmert sich um seinesgleichen. Beispiele gibt es zuhauf. Studenten in den Eliteuniversitäten, die in einem Sicherheitsnetz leben und arbeiten. Und später als Topmanager wie in einem Herrenklub für gegenseitige Solidarität und Anerkennung sorgen. Die aber unten sind, die sieht man nicht: „Netzwerke auf den unteren Ebenen sind zu schwach, um den Menschen sonderlich viel Halt zu geben.”

Sennett beschreibt ausführlich seine Begegnungen mit diesen „Zurückgelassenen”. Beispielsweise bei Mentorentreffen von Bürgervereinen oder Kirchengemeinden. Er deutet mit dem Finger auf die andere Seite. Interviews mit der Bostoner Oberschicht lassen erahnen, wie resistent man dort ist, die Andersheit des anderen anzuerkennen. Ein Leben hinter der glänzenden Fassade, doch auch mit ersten Rissen. Und in der Wohnstube dröhnen die üblichen Verbalattacken gegenüber Schwarzen. Es sei deshalb, so Sennett, eine irrige Vorstellung, dass die sozialen Beziehungen zu anderen aus einer Gleichheit resultieren. Jenseits von Klassen- und Rassenungleichheit ist Respekt verschwunden oder zumindest verschwommen.

Sennett gibt nicht auf. Er will sich nicht abfinden mit den trüben Wirklichkeiten. Er sucht die Bande, mit denen man ein starkes Respektseil knüpfen könnte. Gegenseitige Anerkennung wird bei ihm zu einem der zentralen Begriffsfäden, sowohl im Sinne von John Rawls als „Achtung der Bedürfnisse von Menschen, die einem nicht gleichgestellt sind“, als auch wie Jürgen Habermas es formuliert als „Achtung der Bedürfnisse, die einem nicht gleichgestellt sind“. Doch wie formt die Gesellschaft den Charakter, der die Menschen befähigt, den Respekt der anderen zu gewinnen und deren Bedürfnisse zu achten?

Eine schwierige Frage für alle Gesellschaftsformationen. Sennett gibt Ausblicke für den Einzelnen: Jeder ist höchstmöglich bestrebt, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Blüte zu bringen. Jeder sorgt sich um sich selbst und ist gleichzeitig bestrebt, den anderen etwas zurückzugeben. Doch zu viele Hindernisse versperren die freie, respektvolle Sicht auf den anderen. Zu guter Letzt wird auch die Autonomie zum Treibgut in der modernen Gesellschaft. Autonomie verstanden als das Akzeptieren, was man im anderen nicht versteht.

Autonomie, so Sennett, verlange eine Beziehung, in der die eine Seite akzeptiert, dass sie die andere nicht vollkommen verstehen kann. Die Akteure sind sich darüber bewusst, dass sie sich nah und fremd zugleich sind. Was nun? Der Ausweg liegt für Sennett in der Selbstbeschränkung als Ausgangspunkt für ein Zusammenspiel der Kräfte. Sich ausdrücken und darstellen, gleichzeitig auch neue Werte aufnehmen und erproben können, ohne zu dominieren. Klingt wie die Quadratur des Kreises. „Der Kern des Problems, vor dem wir in der Gesellschaft und insbesondere im Sozialstaat stehen, liegt in der Frage, wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach zu bleiben.”

Das ist und bleibt auch eine soziale Frage.

Peter Felixberger, Montagsblock /211

06. März 2023