Montagsblock /210

In der Passionszeit höre ich schon seit vielen Jahren geradezu obsessiv Passionsmusik. Man muss nicht religiös musikalisch sein, um in diesem Sinne musikalisch religiös sein zu können. Damit ist nicht die bürgerliche Idee der Kunstreligion gemeint, der Kult der Erhabenheit und eine Praxis, die vor allem vom eigenen Ergriffensein ergriffen ist. Aber es fällt auf, dass gerade in der Passionsmusik die Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Hoffnung, von Dunkelheit und Licht, von Schrecken und Erlösung ihren musikalischen Ausdruck findet – und es folgt nun keine gelehrte Abhandlung darüber, dass es das Leid, der Schmerz und die Angst ist, die zu besonderen künstlerischen Formen führt (auch wenn das ohne Zweifel stimmt). Es ist eher eine persönliche Note.

Ein für mich geradezu unverzichtbares Musikstück ist der Choral „Ruht wohl, Ihr heiligen Gebeine“, der letzte Chorus aus Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, uraufgeführt am Karfreitag 1724, aber erst 100 Jahre später durch die Wiederbelebung Bachs durch Felix Mendelssohn-Bartholdy als Konzert- und liturgische Musik kanonisiert. In diesem Jahr ist es, nach einem Jahr des Krieges gegen die Ukraine, ein noch besondereres Hörerlebnis. Die Gazetten sind voll von Erörterungen darüber, wie dieser Krieg zu Ende gebracht werden kann, wie das sinnlose Sterben endlich aufhört, wie man den Aggressor dazu bringt, von seinen offenkundig und immer neu angekündigt unstillbaren Ansprüchen abzubringen – militärisch, ökonomisch, diplomatisch.

Dass mit diesem Thema auch ganz andere Süppchen gekocht werden, ließ sich vor zwei Tagen in Berlin beobachten, als in einer „Friedens“-Demonstration dafür geworben wurde, dass die Dinge endlich zu Ende kommen müssen. Wie unernst die Initiatorinnen all das meinen und und wie sehr es um ganz andere politische Agenden geht, soll hier nicht erörtert werden – eher das Befremden darüber, wie gleichgültig man mit dem Satz umgeht, dass das Sterben endlich aufhören muss, völlig unbeeindruckt davon, dass es mit manchen Strategien gerade weitergehen wird mit dem Sterben und dem Leid. Aber, wie gesagt, darum soll es hier nicht gehen, obwohl sich viel dazu sagen ließe.

Was auffällt, vielleicht auch, weil die Passionszeit begonnen hat, ist das Formelhafte am Rekurs auf das Sterben, das da aufhören muss (übrigens auf beiden Seiten der Front, der Aggressor versündigt sich nicht nur an der Ukraine, sondern auch an den eigenen Leuten, für die er sich offenkundig nicht interessiert). Was für eine Perspektive gibt es für diese vielen sinnlosen Tode und diese vielen sinnlos gestorbenen Menschen? Wie kann man sich dazu verhalten? Man kann es religiös tun und darauf hoffen, dass ihrem erlittenen Karfreitag ein Ostersonntag zuteil wird – aber das grenzt auch angesichts der religiösen Verbrämung des Angriffskrieges durch Russland fast an Zynismus.

Für mich persönlich ist es seit einigen Tagen der alljährlich wieder in Erinnerung gebrachte Chorus aus der Johannes-Passion, dessen Schlusszeile folgenden Satz enthält: Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu. Vordergründig ein Satz, der leicht zu verstehen ist, der auf religiöse Erlösungshoffnung zielt und der die Auferstehung Jesu auf die Auferstehungshoffnung der Christen überträgt – und altmodisch genug, um es gewissermaßen als Dokument zu lesen.

Aber in der Musik von Bach ist es anders. Die Ästhetisierung durch die Musik macht diese Zeile zum Zentrum des Chorsatzes, steigert sich dorthin und markiert das Ziel. Das zu hören geht weit über etwaige unmittelbare religiöse Konnotationen hinaus. In diesen Tagen jedenfalls markiert es für mich die Frage, wie sich die Hölle ganz real verschließen lässt – wie wird aus den pflichtschuldigen Sätzen über das „Ende des Sterbens“ eine Perspektive, die die Hölle zuschließt – eine griffige Metapher dafür, dass auch Teilerfolge, Strategien und Geländegewinne die innerweltliche Hölle sind. Und niemand vermag derzeit, diese zu verschließen.

Alles, was ich sagen will, ist der Hinweis darauf, wie der musikalisch-künstlerische Ausdruck in diesem Chorus am Ende der Johannes-Passion für mich eine besonders ausdrucksstarke Form dessen ist, worum es gerade geht. Ich empfehle, bei allen gut gemeinten und instrumentalisierenden Argumenten derzeit, nur dafür, die ästhetische Dimension dieses Chorus aufzunehmen, um zu zeigen, dass es für viele um alles geht. Ich höre es übrigens am liebsten in einer Aufnahme des Collegium Vocale Gent mit Philipp Herreweghe.

Armin Nassehi, Montagsblock /210

27. Februar 2023