Montagsblock /205

Mehr als 20 Jahre Wikipedia und Wikinomics. Blick zurück nach vorne*. Mit der New Economy wollten damals viele das hierarchiebigotte Ancien Régime hinausfegen. Das Web wurde als globaler Computer gefeiert, der es ermöglicht, uns besser zu organisieren und humaner zu wirtschaften. Am Horizont leuchtete eine neue kooperative Weltökonomie, die sich jenseits hierarchischer und proprietärer Geschäftsmodelle der alten Wirtschaft herausbilden wollte. Don Tapscott und sein Kollege Anthony D. Williams** schrieben in den Nullerjahren, dass die Welt künftig in einer kooperativen Ökonomie erstrahlen würde. „Wir treten in ein neues Zeitalter ein, wo die Menschen in einer Weise am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen wie nie zuvor. Noch nie hatten Einzelne die Macht und die Gelegenheit, in losen Netzwerken Gleichgestellter und Gleichgesinnter (‘Peers’) zu kooperieren und Waren und Dienstleistungen kontinuierlich und in konkret fassbarer Form herzustellen.” Man nannte es Wikinomics, die neue kooperative Weltökonomie auf Basis globaler Netze und Technologien. Das Silicon Valley und seine kalifornischen Erlöserfiguren waren on fire.

Statt „Jeder gegen jeden“ hieß es plötzlich „Jeder mit jedem!“ Die Losung: Allein bist du wenig, nur gemeinsam mit anderen bist du stark und kreativ. Wikinomics entzauberte den Mythos des Genies in der Chefetage oder des Kapitäns auf der Kommandobrücke eines Unternehmens. Der letzte Schrei, Hitzefrei, weg mit den antiquierten Eliten, lasst die Paten abdanken! Besser herrsche transparente Unübersichtlichkeit als jene vornehme Verschwiegenheit der diskreten Gesellschaft. Darin steckte ein emanzipatorischer Kern, der viele weltweit zu faszinieren begann. Zugelassen zum ausgelassenen Wikinomics-Spiel waren alle, von den Subkulturen bis zum Industriekapitän. Sollte nicht gar ein jeder ein richtiger Unternehmer werden können? Und sich gegenseitig vertrauen und helfen. Der Pädagoge Olaf-Axel Burow schrieb damals im hellen Feuerschein der neuen Ära: „Kreativität ist weniger in der isolierten Leistung eines herausragenden Individuums zu verorten, sie entsteht vielmehr in Feldern, die in sehr spezifischer Weise aufgebaut sind.” Diese kreativen Felder bildeten sich aber nur, wenn unterschiedliche Personen ihre Fähigkeiten in Synergie zur Blüte reifen lassen. „Das Zukunftsbild ist nicht der genialische Einzelne in seinem Atelier, sondern … das vielfältig gestaltete kreative Feld innerhalb einer Firma oder Institution.“

In diesen Zitaten schlummert ein nahezu herrschaftsfreier, dialogischer, gleichberechtigter und alles zulassender Aktionsraum. Voneinander lernen und dem anderen helfen, selbst wenn er Konkurrent oder Mitbewerber wäre, war die Grundphilosophie der Wikinomics-Welt. Der amerikanische Unternehmensberater James Moore prophezeite sogar, dass die innovativen neuen Märkte nur im Verbund zu schaffen sind: „Die Verwirklichung einer machbaren ökonomischen Zukunft erfordert die intensive Zusammenarbeit unterschiedlicher Leistungsanbieter. Sie setzt voraus, dass man sich über gemeinsame Visionen verständigt, Allianzen schließt, Vereinbarungen trifft und komplexe Beziehungsnetze managt.“

Viele waren berauscht von der „Wir sind das Volk“-These. „Wir werden unsere eigene Volkswirtschaft: ein großes, globales Netzwerk spezialisierter Produzenten, die Dienstleistungen in den Bereichen Unterhaltung, Versorgung und Lernen hin und her schieben und untereinander austauschen. Eine neue ökonomische Demokratie entsteht, in der wir alle eine Führungsrolle einnehmen.” Wie hat es Ross Mayfield, der Gründer von Socialtext (einem Provider für Wiki-Software für Unternehmen), ausgedrückt: „Im neuen Web geht es um Verben, nicht um Substantive.” Das gemeinsame Tun stünde im Vordergrund: teilen, Kontakte knüpfen, zusammenarbeiten und etwas gemeinsam schaffen.

Über 20 Jahre (22 um genau zu sein) Wikinomics. Klingt wie eine romantische Rückschau. Und in der Tat leben in vielen Start-ups digital-sozial-ökologische Transformationsträume fort. Weg von Profit first und soziopathischen Geschäftsmodellen. Andererseits: Ein paar Finanzkollapse, Pandemien und Kriege später ist vom Aufbruch auch nicht mehr viel übrig. Die Pioniere der Creative Class haben sich verkrochen oder mit dem neuen Silicon Valley-Stalinismus arrangiert. Husch, husch, zurück ins Körbchen! Bevor die Verrückten noch etwas anstellen und die Gemäuer einstürzen. Stigmatisierung als diffus und weltfremd. Ihren Platz hat vielerorts eine neue Clique von Wölfen im Schafspelz eingenommen, die jetzt Ancien Régime mit digitalen Geschäftsmodellen spielt, parallel sich vom Gemeinwohl abkoppelt und perfiden Reichtum zusammenrottet. Same as it ever was? Fragt sich, ob man in 20 Jahren einen Montagsblock mit dem Satz beginnen wird: „In diesem Jahr feiern wir 20 Jahre Energiewende. Blick zurück nach vorne. Mit der Energiewende wollten viele das fossile Ancien Régime hinausfegen …“ Da fällt mir ein: Mein erstes Buch als Junglektor war 1989 der Titel „Die andere Energiezukunft. Sanfte Energienutzung statt Atomwirtschaft und Klimakatastrophe“. Vor 33 Jahren. Viele Grüsse aus der vorletzten Generation!

Peter Felixberger, Montagsblock /205

23. Januar 2023

*Die Zeitschrift Wired berichtete vor 15 Jahren, dass die Menschheit bisher mindestens 32 Millionen Bücher, 750 Millionen Artikel und Aufsätze, 25 Millionen Songs, 500 Millionen Bilder, 500.000 Filme, drei Millionen Videos, Fernsehsendungen und Kurzfilme und einige Millionen öffentlich zugängliche Webseiten veröffentlicht hätte. Kurze Aktualisierung: Von knapp 122 Millionen im Jahr 2007 bis ins Jahr 2021 stieg die Zahl auf 1,88 Milliarden Webseiten.

** Don Tapscott / Anthony D. Williams: Wikinomics. Revolution im Netz. München 2007.