Neurosen, Psychosen und vor allem organische Erkrankungen des Temporallappens führen oft zu Déjà-vu-Erlebnissen. In gehäufter oder extremer Form können sie von pathologischer Relevanz sein, also eine Abweichung darstellen die nach den Regeln der ärztlichen Kunst als krankhafte Form definierbar ist. Ein solches Déjà-vu-Erlebnis hatte und habe ich während der Diskussion um die Ereignisse an Silvester in Berlin. Kurz fragte ich mich, ob ich psychiatrischer Behandlung bedarf, aber es war gar kein Déjà-vu-Erlebnis von psychopathologischer Relevanz, sondern eher von soziopathologischer. Will heißen: Die Sache fand nicht in meinem Kopf statt, sondern außerhalb.
Das ist (für mich) eine gute Nachricht, aber sonst nicht. Mit Peter Felixberger habe ich im Jahre 2016 ein Buch mit dem Titel „Deutschland. Ein Drehbuch“ (Kursbuch-Edition) geschrieben. Wir haben dort Szenen öffentlicher Debatten rekonstruiert und gezeigt, wie erwartbar Specherrollen in solchen Debatten verteilt sind. Die Leute spielen ihre Rollen, als gäbe es tatsächlich ein Drehbuch, nach dem die Rollen besetzt sind und nach denen geredet wird. Anders gesagt: Die Gesellschaft ist selbst voller Déjà-vu-Szenen und voller Wiederholungen ihrer eigenen Formen. Sie wirkt volatil und disruptiv, schnelllebig und unstet, ist aber in Vielem stabil und unbelehrbar, träge und nur ein Exemplar ihrer eigenen Schnittmuster.
Eines der Themen in dem behandelten Buch war die Debatte um die Flüchtlingsbewegungen 2015, in der neben einer erstaunlichen, bisweilen allzu romantischen Willkommenskultur auf der anderen Seite so getan wurde, als breche damit das ganz andere, das absolut Fremde, der Gott-sei-bei-uns über uns herein. Ein Philosoph, der vor allem für die Präzision seiner Andeutungsrhetorik bekannt ist, meinte damals: „Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahmezustand. Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter. Bis zum Ende unseres kurzen Gesprächs werden tausend Flüchtlinge mehr die Grenze überschritten haben.“ Die Souveränität lege man in die Hände von Leuten, „mit denen man fast nichts gemein“ hat.
Namen tun dabei nichts zur Sache, denn die ständige Wiederholung dekonstruiert auch den Autor – die Autorenschaft gründet wohl eher im gesellschaftlichen Frontallappen. Schädigungen des Frontallappens führen oft zu Störungen im Kurzzeit- und im Arbeitsgedächtnis, was wohl dazu führen kann, dass man sich weniger darüber wundert, wie unoriginell und mit Wiederholungszwang sich die Dinge vollziehen. Metaphorisch gesprochen jedenfalls scheint es in der Gesellschaft immer wieder zu denselben Reaktionen zu kommen, wenn es zu Problemen kommt, die man „Fremden“ zurechnen kann – also Flüchtlingen oder Migranten überhaupt. Erinnerlich ist dann stets die Frage der Sichtbarkeit.
Was damals und immer wieder, oder besser: wie damals und immer wieder diskutiert wurde, ließ sich nun in einem Déjà-vu nach den Ausschreitungen in der Berliner Silvesternacht beobachten. Das Muster, das immer wieder auftaucht, ist das der Sichtbarkeit. Man muss einem Provinzpolitiker der Union geradezu dankbar sein, dass er Klartext geredet hat – Klartext ist derzeit ohnehin die Form die am professionellsten verschleiert und mit der die besten Auflagen erzielt werden können. Er sprach von einem „Phänotyp“, „dunklerer Hauttyp“, „westasiatisch“. Auf Nachfragen antwortete der gute Mann, er wolle über die „wirklichen Probleme“ sprechen. Das hat er getan, das muss man ihm zugutehalten.
Um es deutlich zu sagen: Dass es Probleme mit Flüchtlingen gibt, vor allem mit jungen männlichen Flüchtlingen ohne Perspektive, ist weder wegzudiskutieren, noch ist es eine Petitesse. Dass sich manche Wohlmeinenden aus ihren trotz Energiekrise wohltemperierten Mittelschichtswohnzimmern allzu romantische Vorstellungen über manche Milieus machen, stimmt ebenso. Aber dass es hier um eine Gemengelage geht, die man nicht einfach mit dem Migrantenstatus erklären kann, ist dann schon schwerer zu verstehen. Dass es derzeit in ganz unterschiedlichen Milieus starke Formen des gewaltnahen Protestes gibt, ist nicht zu übersehen – in ganz unterschiedlichen Feldern. Die Pandemie hat solche Gruppen ebenso ans Licht gebracht, auch andere Protestformen kennen das.
Gewaltausbrüche haben durchaus eine Funktion. Sie simulieren im Moment Macht und aktivistische Potentiale, sie sehen aus wie etwas mit unmittelbarer Wirkung, sie haben darin fast etwas Kathartisches – und machen danach noch sichtbarer, was für machtlose Tropfe die sind, die sich so zeigen. Das hat viel damit zu tun, wie schwierig so etwas wie Selbstwirksamkeitserzählungen, Lebensperspektiven und Anerkennungsformen in bestimmten Milieus verteilt sind – und dass es sich sehr oft um junge Männer handelt, ist kein Zufall. Und wie sehr all das auf sehr komplexe Gemengelagen verweist, kann man wissen. Man lese etwa das jüngste Interview von Aladin El-Mafaalani in der Süddeutschen Zeitung zu den Ausschreitungen in Berlin. Er spricht von einem „Kampf um Status“.
Wie auch immer die Dinge liegen – sie verweisen in jedem Falle auf eine nicht ganz einfach zu dechiffrierende Gemengelage. Man muss sich damit auseinandersetzen. Die Antworten werden dazu führen, dass das Migrationsmerkmal bei der Erklärung solcher Dinge nur eines unter vielen anderen ist. Es ist gewissermaßen eine schwierige Sachfrage, über die sich auch die Gelehrten streiten.
Der gestörte gesellschaftliche Frontallappen aber kommt immer wieder auf dasselbe Stereotyp, und da kommt der Hamburger Provinzpolitiker wieder ins Spiel, der wirklich die richtigen Probleme bespielt. Wie gesagt, ich bin ihm sehr dankbar für den Begriff des „Phänotyps“. Ich glaube nicht, dass dem guten Mann genügend Bildung zur Verfügung steht, um das Wort zu verstehen (aber ich weiß es nicht genau, vielleicht weiß er sogar, was er da sagt). „Phänotyp“ heißt wörtlich die Gestalt des Erscheinens. Es geht um ein Erscheinungsbild. Er stammt aus der Vererbungslehre, das Wort selbst bezieht sich auf etwas Sichtbares, also etwas, das auch ohne Würdigung der dahinterliegenden Strukturen ins Auge springt. Ein Phänotypus ist leicht zu erfassen – wie alles Sichtbare und Bezeichenbare durch Vergleich und Unterscheidung.
Man sieht ein komplexes Geschehen – aber nur in Gestalt von Sichtbarem. Der Phänotypus „dunklerer Hauttyp“, „westasiatisch“ ist im Blick derer, die alles damit erklären, so wirkmächtig, dass er zur Erklärung von allem herhalten kann und muss. Deshalb wird man schlicht den Rassismus nicht los (sogar gegen eigene Intentionen) oder auch den Blick aufs Geschlecht, wo es keine Rolle spielt. „Wär nicht das Auge hauttyphaft, die Dunklen könnt es nicht erblicken“, könnte man mit Goethe dichten (das Original meint das sonnenhafte Auge, das nur die Sonne erblicken könnte, und weiter: „Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt und Göttliches entzücken?“). Dass vielen bei Problemen wie denen wie an Silvester nur dieser Blick zur Verfügung steht, ist eine Soziopathologie des gesellschaftlichen Frontallappens.
Die Urszene ist für mich diese: Der schon genannte Aladin El-Mafaalani sitzt in einer TV-Talkrunde neben der bundespolitischen Ausprägung des Hamburger Provinzpolitikers, der ähnliches Zeug redet, und muss sich anhören, er sei natürlich nicht gemeint. Ähnliche Szenen fanden sich dieser Tage an verschiedenen Stellen – „Sie sind natürlich nicht gemeint.“ Besser kann sich die Rede von den Phänotypen gar nicht selbst destruieren als in dieser Urszene. Sie zeigt nämlich: Als erklärende Variable taugt die Phänotypologie eben nicht. Sie zehrt nur von einer Form der Sichtbarkeit, die alles ganz einfach macht: Man sieht es ja. Je genauer man aber hinsieht, desto weniger sieht man. Was sich wie eine paradoxe Formulierung anhört, ist aber gar nicht paradox: Je unschärfer man schaut, desto klarer erscheinen die Dinge, weil keine Details stören. Dazu sagen zu müssen, dass es den vereinfachenden Blick auch bei den Sozialromantikern gibt, macht die Sache nicht unbedingt besser.
Dass hinter all dem auch eine Strategie stehen könnte, in Gewässern zu fischen, die von der AfD und Ähnlichen kontrolliert werden, liegt durchaus nahe. Dass die Leute das Zeug wirklich reflektiert so meinen, ist auch nicht ausgeschlossen. Aber man soll nicht das Schlechteste über die Menschen denken, sondern durchaus auch entgegenkommend sein: Vielleicht ist es einfach nur eine Faulheit des Denkens, eine Dummheit, in der man sich besser einrichten kann, als wenn man argumentieren muss, ein Gefühl der Sicherheit, in der man sich einrichten kann. Vielleicht ist es nur ganz einfach die Folge jenes gestörten gesellschaftlichen Frontallappens, der sie nicht sehen lässt, dass sie nur wiederholen, was schon öfter gescheitert ist. Denn zu einem pathologischen Déjà-vu gehört ja auch, dass man die Wiederholung für ein Original hält. Nur: Wie wird man das wieder los? Zur Tragik aller Argumentation gehört, dass sie ein gegenüber mit einer gewissen requisite variety braucht. Daran hapert es leider sehr oft. Vieles sieht aus wie zwanghaftes Verhalten. Wie ein Wiederholungszwang – der Begriff stammt aus der Psychoanalyse. Wie komme ich gerade nur so oft auf pathologieaffine Begriffe?
Armin Nassehi, Montagsblock /204
16. Januar 2023