Montagsblock /198

In Kursbuch 14 mit dem Titel Kritik der Zukunft, erschienen im August 1968, findet sich ein Gespräch, das Hans Magnus Enzensberger mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler im Oktober 1967 geführt hat. Es sollte um die Zukunft gehen und um die Möglichkeit der Revolution. Enzensberger hat nach allzu allgemeinen Erörterungen seine Gesprächspartner in der Mitte des Gesprächs gebeten, von der Weltrevolution aufs Lokale umzustellen: Was täten sie, wenn sie die Gelegenheit hätten, die Revolution in Berlin zu machen – man muss sich vorstellen: West-Berlin, isoliert, begrenzt, überschaubar? Enzensberger fügte eine kleine Bemerkung in die Frage ein, über die man schnell hinwegliest, man habe es nämlich zu tun mit einer Welt, die schon da ist, „mit ökonomischen, mit Strukturproblemen, mit einer vorhandenen Bevölkerung, die so ist, wie sie ist.“

Die Sätze der drei werden nicht unbedingt konkreter, aber deutlich. Rudi Dutschke stellt sich vor, „daß die Gesellschaft eine große Universität wird, eine riesige lernende Gesellschaft, eine große Schule“, die Stadt sei in Form von „dezentralisierten Kommunen“ aufzugliedern. Erstaunlich offen blieb die Frage, was man mit denen machen solle, die nicht mitmachen wollen. Bernd Rabehl schlägt vor, dass man „älteren Leuten und bei bestimmten Verbrechen“ den Betroffenen die Möglichkeit geben sollte, auszuwandern. Was nicht in die Revolution passt, wird abgeschoben. Die „Neurose verschwindet mit dem Umbau der Gesellschaft“, sagte (ausgerechnet!) Rabehl noch, man hoffte auf eine verkürzte Arbeitszeit usw.

Dann folgt eine kleine Passage eines Zwiegesprächs mit Dutschke, in dem Enzensberger unmerklich das gesamte Gebäude seiner großsprechenden Gesprächspartner ins Wanken bringt. Sie geht so:

 

D. Die verkürzte Arbeitszeit kann zur völligen Beseitigung von Schichtarbeit, von Nachtarbeit führen.

E. Das geht nicht, weil es Service-Funktionen gibt, die 24 Stunden am Tag nötig sind. Verkehrs-, Versorgungs- und Nothilfefunktionen werden 24 Stunden am Tag gebraucht.

D. Das stimmt. Wir brauchen zum Beispiel Großküchen, die sich nicht durch Einfachheit auszeichnen, sondern hoch entwickelte Bedürfnisse entfalten.

E. Die Kochkunst ist leider keine revolutionäre Kunst.“

 

Dieses argumentative Florett wird von den Dreien nicht wirklich wahrgenommen, man konzediert noch, dass es eines „sehr langfristigen Lernprozesses“ bedarf. Aber gemerkt haben sie es nicht.

Enzensbergers Kunst bestand hier darin, die Dinge auf ihre eigenen Bedingungen zurückzuführen und der einfachen Lösung zu misstrauen. Er nahm eine Welt ernst, die schon da war und nur die Zutaten kennt, die zur Verfügung stehen. Wie die Kochkunst.

Der Begründer und erste Herausgeber des Kursbuchs verstarb am vergangenen Donnerstag 93-jährig in München.

Armin Nassehi, Montagsblock /198

28. November 2022