Montagsblock /197

Christian Busch, Leiter des Global Economy Program an der New York University, hat mir das folgende Experiment erzählt. Der britische Psychologieprofessor Richard Wiseman hat es durchgeführt. Er wählte zwei Menschen aus, die sich einmal als „extrem glücklich” (Glückspilz) oder als „extrem unglücklich” (Pechvogel) bezeichneten, und testete, wie intensiv sie die Welt um sich herum wahrnehmen.

Das Setting: Ein Forschungsteam bat beide Personen, ein Café zu besuchen (getrennt voneinander), eine Tasse Kaffee zu bestellen und sich zu setzen. Versteckte Kameras auf der Straße vor und im Café filmten sie. Das Besondere: Die Wissenschaftler legten einen Fünf-Pfund-Schein auf den Bürgersteig direkt vor den Eingang des Cafés, so dass die Personen unweigerlich darauf stoßen mussten. Außerdem wurden im Café nur vier große Tische aufgestellt, an denen jeweils nur eine Person saß. Drei davon waren Schauspieler, und einer war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der wiederum in der Nähe der Kaffeetheke saß. Die vier Personen wurden angewiesen, mit beiden Teilnehmern auf die gleiche Art und Weise zu interagieren.

Was ist nun passiert? Tja, die „Glückspilz“-Person ging in Richtung des Cafés, „sah“ den Fünf-Pfund-Schein, hob ihn auf, ging hinein, bestellte einen Kaffee und setzte sich neben den Geschäftsmann. Sie begannen ein Gespräch und freundeten sich an. Die „Pechvogel“-Person hingegen sah den Fünf-Pfund-Schein nicht. Auch diese Person setzte sich neben den erfolgreichen Geschäftsmann, schwieg aber bis zum Ende des Experiments.

Als Wisemans Team die beiden später fragte, wie ihr Tag verlaufen sei, erhielt es zwei sehr unterschiedliche Antworten: Die „Glückspilz“-Person beschrieb, dass es ein großartiger Tag gewesen sei, dass sie Geld gefunden habe und ein tolles Gespräch mit einem erfolgreichen Geschäftsmann hatte. Die „Pechvogel“-Person sagte wenig überraschend, es sei ein „völlig ereignisloser“ Morgen gewesen. Beiden Personen boten sich genau die gleichen Möglichkeiten – aber nur eine von ihnen „erkannte” sie.

Wenn man dieses Beispiel wahrnehmungspsychologischer betrachten möchte, geht es auch um den Blick auf und in die eigene Zukunft. Betrachtet man diese eher als eine Quelle unerwarteter, inspirierender und wegweisender Ereignisse („Perlschnur“) oder glaubt man eher an einen Horizont mit Zerstörung, Untergang und dunklen Vorahnungen („Zündschnur“)?

Perlschnur oder Zündschnur? Hübscher Einstieg. Eigentlich geht es aber um mehr, nämlich um die Fähigkeit des genauen Hinsehens, um die kleinteiligen Chancen der Zukunft im Augenblick ihres Aufscheinens nutzen zu können. !! Hinsehen, Spuren, Erkennen, Licht !! Hinsehen, Leere, Verkennen, Dunkelheit !! Der Kognitionswissenschaftler Francis Varela beschrieb das mit dem Prinzip der blinden Katze. Neugeborene Katzen, so Varela, benötigen einige Tage, bevor sie ihre Augen öffnen können. In einem Experiment wurden die neugeborenen Katzen in Zweierpaaren zusammengebracht, jeweils eine in einem beengten Rollkäfig und die andere mit normaler Bewegungsfreiheit daran angehängt. Das Ergebnis war, dass die Katze mit normaler Bewegungsfreiheit ganz normal sehen lernte, die andere mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit indes nicht. Varelas Schluss aus diesem Experiment: „Wahrnehmung ist nicht passiv. Wahrnehmung ist eine Aktivität, die wir mit unserem ganzen Körper in die Welt bringen.“ Es sei deshalb unabdingbar, selbst in die Welt zu gehen und mit eigenen Augen und Sinnen das Neue sehen zu lernen. Auch, was links und rechts des Weges an Ungewissheiten und unerwarteten Ereignissen schlummert. Siehe Fünf-Pfund-Schein.

Der Aktionsforscher und Gründer des Presencing Institute in Cambridge, Otto C. Scharmer, sieht uns indes dieser Wahrnehmungsfähigkeit zunehmend beraubt. Und wir sind selbst schuld, sagt Scharmer, denn in unserem Lebens- und vor allem Arbeitsalltag werden primäre Wahrnehmungswelten mehr und mehr ausgelagert. Verantwortung abgeben. Externe Berater, Spindoctors, Publizisten, Mentoren oder andere Experten bilden stellvertretend konkrete Sinneserfahrungen ab. Sie erklären denen, die drinbleiben, was sie falsch machen und warum es andere viel besser machen, als sie es tun. „Je größer jedoch die Komplexität einer Situation, desto wichtiger ist es, die direkte Wahrnehmung und die Aktivierung der Sinne nicht auszulagern, sondern die Nähe zum lebendigen Kontext aktiv zu suchen und so strategische Veränderungen und Entwicklungen frühzeitig wahrzunehmen. Ohne direkte Verbindung zum Kontext einer Situation geht es uns wie der blinden Katze: Wir können das Neue nicht spüren, nicht sehen.“ Mit der Folge: Am Ende können wir so gut wie gar nichts „von einer im Entstehen begriffenen Zukunft lernen“.

Fazit: Es reicht offenbar nicht mehr, den Geldschein zu finden, aufzuheben und sich – Reiz-Reaktion – als Glückspilz zu feiern. Wichtiger ist zu erkunden, inwieweit der Geldschein eine Wahrnehmungsbrücke in mein – formerly known – Schicksal/Selbstentfaltungslinie/Karriere sein könnte. Kleinteilig, kleinräumig, subjektiv, allerorten. Oder wie Christian Busch sagt: „Serendipität ist überall um uns herum zu finden, von den kleinsten alltäglichen Ereignissen bis hin zu lebens- und manchmal weltverändernden Durchbrüchen.“

Louis Pasteur sagt: „Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist.“ To be continued.

Peter Felixberger, Montagsblock /197

21. November 2022

Literaturtipp:

Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall. Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können. Murmann Publishers, Hamburg. Erscheint im Februar 2023.