Montagsblock /196

Ziemlich genau neun Jahre ist es her, dass ich nach Abschluss meiner Doktorarbeit ins französische Grenoble gezogen bin, um dort die Entstehung von Sternen zu erforschen. Ich hatte eine wunderschöne Wohnung direkt in der Innenstadt gefunden, direkt am Ufer des Flusses Isère und in der wohl ältesten Straße der Stadt. Die Häuser dort stammten angeblich noch aus dem 15. Jahrhundert. Die verwinkelte Architektur machte diese Datierung durchaus plausibel. Das Treppenhaus war offen, in den großen Fenstern gab es nur gusseiserne Gitter, keine Glasscheiben. Unter den Eingangstüren klafften große Spalte. Und in meinem Wohnzimmer gab es einen offenen Kamin, den ich aber aus brandschutzrechtlichen Gründen – und wohl auch wegen der ohnehin schlechten Luftqualität der im Talkessel gelegenen Stadt – nicht benutzen durfte. Offen war der Kamin nicht nur in Richtung Wohnzimmer, sondern auch in Richtung Himmel. Wenn es stark regnete, spritzte es auf das Parkett. Manchmal tanzten Hagelkörner durch meine Wohnung. Das war alles sehr charmant, und es war eine wunderschöne Zeit dort. Meine Wohnsituation führte damals aber schnell dazu, dass mir bewusst wurde, dass mir in all den Jahren zuvor in Deutschland eine fundamentale Erfahrung vorenthalten worden war: Ich hatte nie wirklich verstanden, was es heißt, dass Winter ist.

Denn obwohl Grenoble eine Wintersportstadt ist – 1968 hatten in den nahen Bergen die olympischen Winterspiele stattgefunden -, war meine Wohnung nicht für niedrige Temperaturen konzipiert. Neben den vielen immer offenen Luftaustauschstellen nach draußen war eine weitere Eigenart, dass es dort nur Elektroheizungen gab. Tagsüber wollte ich die nicht anlassen, und so waren es abends wenn ich aus dem Büro nach hause kam nicht selten 13 Grad in der Wohnung, die ich bis zum Schlafengehen dann auf 20 Grad hochheizen konnte. In meinem schlecht isolierten Büro gab es übrigens auch nur einen Elektroheizer, der ebenfalls nicht ohne Anwesende laufen durfte. Ich arbeitete dort im Winter mit fingerlosen Handschuhen und sehr viel heißem Tee. Und wenn ich meine Eltern zu Weihnachten besucht habe, kam es mir ziemlich absurd vor, dass ich drinnen praktisch dieselbe Kleidung tragen konnte wie im Sommer und der einzige Unterschied die dicke Jacke für draußen war.

Momentan denke ich aus naheliegenden Gründen immer mal wieder an diese Zeit zurück. Mir kommen 20 Grad Innentemperatur nach fast sechs Jahren zurück in Deutschland mittlerweile wieder kühl vor, aber mit der damals für Frankreich angeschafften Skiunterwäsche mit Fleece-Innenschicht komme ich auch mit 18 Grad problemlos klar. Es sind aber nicht nur meine eigenen Erfahrungen, die mir aktuell immer mal wieder einfallen, sondern auch die Erzählungen meiner Eltern, Nachkriegskinder, die mir als ich klein war von ihrer eigenen Kindheit berichteten. Von Eisblumen, die innen an den Fenstern wuchsen, vom mühsamem Heizen einzelner Zimmer mit Kohleöfen. Diese Geschichten haben mir wahrscheinlich geholfen, zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, was für ein privilegiertes Leben wir heute führen.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant und auch etwas frustrierend, dass wir Menschen so wenig in der Lage sind, uns anhaltend über das zu freuen, was wir haben. In diesem Sommer erschien eine Studie, die aufzudecken versuchte, warum wir Menschen uns so schnell an das gewöhnen, was uns glücklich macht, und warum wir uns das, was wir haben, so oft durch Vergleiche schlecht reden. Beide Verhaltensweisen machen uns schließlich unglücklich, was evolutionsbiologisch erstmal nicht günstig klingt. Warum neigen wir also so stark dazu? Die Autoren der in “Plos Computational Biology” erschienenen Studie näherten sich der Frage mithilfe künstlicher Intelligenz. Sie nutzten selbstlernende Algorithmen, deren Belohnungsfunktion teilweise mit sich immer weiter erhöhenden Erwartungen und relativen Vergleichen kombiniert wurde. Das Ergebnis der Versuche: Die so ausgestatteten Agenten waren zwar “weniger glücklich”, aber lernten schneller und besser – insbesondere unter schnell veränderlichen Bedingungen.

Natürlich kann man die Übertragbarkeit solcher Versuche auf unsere menschliche Psyche aus vielen Gründen infrage stellen. Aber es wäre ja schön, wenn wir von unserer Neigung zur selbstgemachten Unzufriedenheit zumindest irgendetwas hätten. Die Autoren selbst schließen allerdings mit einer nachdenklichen Note. Sie heben hervor, dass unser Hang zum Überkonsum sehr tief in unserer Psyche verankert sein könnte. “Paradoxerweise sind Menschen in modernen Gesellschaften selten zufriedener als frühere Generationen”, schreiben sie. Man müsse daher darüber nachdenken, konkrete Strategien zu entwickeln, die uns unglücklich machenden Vergleiche und Gewöhnungen zu reduzieren.

Über solche Interventionen haben sich die Menschen schon vor zweitausend Jahren Gedanken gemacht. Bereits die Stoiker haben Übungen entwickelt, um diesem Laster entgegen zu wirken. Bei der negativen Visualisierung stellt man sich vor, auf Dinge verzichten zu müssen, die man schätzt. Auf der Grundlage dieser Vorstellung, so das Ziel der Übung, lernt man daraufhin wieder den Wert dessen zu sehen, was man hat. Wenn die derzeitigen Knappheiten neben all den Schwierigkeiten, die sie bringen, diesen Nebeneffekt haben könnten, wäre das immerhin ein kleiner positiver Aspekt der gegenwärtigen Krise.

Link zur Studie: https://journals.plos.org/ploscompbiol/article/comments?id=10.1371/journal.pcbi.1010316

Sibylle Anderl, Montagsblock/196

14. November 2022

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