Montagsblock /192

In der letzten Zeit wurde viel über die Freiheit gestritten, darüber, wie man Freiheit denken kann, ohne so naiv zu sein, einfach nur zu behaupten, Freiheit sei nichts anderes als eine Operationalisierung des „Ich will“ als Ausgangspunkt und Zielpunkt allen Bemühens. Das ist ebenso simpel wie indiskutabel und verhöhnt im übrigen jene Traditionen liberalen Denkens, die ja gerade darum gerungen haben, wie Freiheit in einer Welt gedacht werden kann, in der zum einen auch den anderen Freiheit zugestanden werden muss und andererseits Bedingungen eingerichtet werden müssen, damit Freiheit möglich ist. Sie scheint nie bedingungslos zu sein, die Freiheit – und man will gar nicht weiterschreiben, weil man ja nur auf etwas reagiert, was die Flughöhe eines angemessenen Diskurses um Freiheit gar nicht erreicht.

Was sich aber lohnt, ist dies. Am vergangenen Wochenende war ein Tweet zu lesen, in dem es hieß, dass es wirklich naiv sei, zu glauben, Freiheit sei nicht auch gesellschaftlich „bedingt“, aber es scheine dem Twitterer „weiterhin durchaus vernünftig, nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie man genau die ‚Bedingtheit‘ der Freiheit in Zukunft umgehen und abschaffen kann“. Ich will absichtlich den Autor des Tweets nicht nennen, weil der Tweet am Ende unbedeutend ist und der Autor hier auch nicht vorgeführt werden soll (was man müsste, würde man ihn nennen). Interessanter ist doch die Frage, wie man auf so etwas kommt. Man könnte jetzt dagegenreden und betonen, dass es so etwas gar nicht gibt und geben kann. Auf den Tweet ist geantwortet worden, es liege in der Natur des Menschen, von anderen abhängig zu sein – die üblichen verdächtigen Antworten also, die je nach Geschmack auch anders formuliert werden können. Dass derzeit so viele diese Freiheitsdiskussion so führen und die gesellschaftlichen Bedingungen der Freiheit mit dem Gegenteil von Freiheit verwechseln, wäre schon ein interessanter Hinweis, wie sehr die Freiheit des armen Tweet-Autors von den gesellschaftlichen Zeitläuften abhängig ist. Denn dass er auf einen Diskurs aufspringt, der schon da ist, ist offenkundig. Man könnte auch entgegnen, dass schon die Verwendung von Sprache auf etwas verweist, was stark auf gesellschaftliche Bedingtheit verweist. Und dass es kommuniziert wird, ist ja schon im Lichte des Anschlusses an vorherige und der Erwartung nachfolgender Kommunikation geschehen.

Es hätte etwas Oberlehrerhaftes, all das zu betonen. Irgendwie liegt auch der Verdacht nahe, dass so etwas geschrieben wird, um Oberlehrerhaftes zu provozieren, damit das als solches vorgeführt werden kann – als illiberaler Verweis auf andere Autoritäten – auch solche Eselei war schon in der Twitter-Diskussion über Freiheit zu vernehmen, wie illiberal schon der Verweis auf schon geschriebene Texte ist, weil man dann ja gar nicht mehr schreiben kann, was man will. Das verweist auf Abgründe, die vielleicht nur Bildungslücken sind. Und in bestem performativem Widerspruch sage ich hier, dass ich davon nicht handeln will.

Sondern?

Nun ja, ich wundere mich, wie man auf die Idee kommen kann, dass die Vermeidung von gesellschaftlicher Bedingtheit ein erstrebenswerter Zustand ist. Als was imaginiert man sich da? Als eine Art Autokreator? Als freischwebende Intelligenz? Als Monade, die sich selbst die ganze Welt ist? Oder als ein Gefäß, das alles aufgenommen haben muss? Oder hat der Tweet-Autor Angst davor, dass gar nichts mehr originell an ihm ist, wenn er fremde Spuren in sich selbst vorfindet? Verwechselt er soziale Bedingtheit mit sozialer Eins-zu-Eins-Determination? Er kann sich beruhigen, denn er wird kaum behaupten können, dass er nichts anderes hätte tweeten können als dies. Wenn man solche Denkungsarten verstehen möchte, dann ist es vielleicht die vollendetste Form dessen, was man mit dem Schimpfwort Identitätspolitik belegt.

Identitätspolitik wird kritisiert als eine Strategie, in der sich Personen nur als Angehörige einer bestimmten Identität beanspruchenden Gruppe verstehen und jede Lebensäußerung über diese Identität mit einem kollektiven Wir zu erschließen ist – das, was man tut, und die Art und Weise, wie man gesehen wird.

Genau genommen freilich ist der erwähnte Tweet eine Form der Identitätspolitik, die damit zu sich selbst kommt. Der Wunsch des Tweeters ist, nur mit sich selbst identisch zu sein, in vollständiger Selbstreferenz unter Absehung der Welt selbst. Man muss dem Autor dankbar sein, das Problem der Identitätspolitik endlich gelöst zu haben: nur mit sich selbst identisch zu sein und darin seine Freiheit zu finden. Abgesehen davon, dass das Ego sum qui sum (Exodus 3:14) nur einem zusteht (und das nur auf Moses‘ Nachfrage), weiß ich gar nicht, ob ich es als Trost empfinden würde, nur mit mir identisch zu sein.

Armin Nassehi, Montagsblock /192

17. Oktober 2022