Nachdem in den vergangenen Tagen Twitter mit der Nachlese einer Talkshow beschäftigt war, die offenbar ziemlich viele Beispiele dafür geliefert hat, wie man nicht erfolgreich miteinander kommuniziert, kam mir mal wieder ein philosophisches Prinzip in den Sinn, über das ich eine Weile nachdachte. Denn dieses Prinzip, so scheint es mir zumindest, ist dafür verantwortlich, dass ich grundsätzlich so wenig Freude an politischen Talkshows habe (und dafür, dass mir einige Menschen, die sich als Philosophen bezeichnen, so überaus unphilosophisch vorkommen).
Getrimmt wurde ich auf dieses Prinzip im Zuge meines Philosophiestudiums wenn es um den Umgang mit fremden Argumentationen ging. Es ist das “Principle of Charity”, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Es fordert, dass man Ideen, die der eigenen Position widersprechen oder unverständlich scheinen, zunächst möglichst stark zu machen versucht, indem man davon ausgeht, dass ihre Vertreterin rationale Gründe für ihre Argumentation besitzen muss.
Das Prinzip hat in der Philosophie eine lange Tradition. In der analytischen Philosophie des Geistes, insbesondere bei Donald Davidson mit Referenz auf Quine, wurde es als zentrales Element dafür identifiziert, dass wir uns überhaupt verstehen können und den Äußerungen anderer Bedeutung zumessen. Denn ohne das Prinzip landen wir in einem Teufelskreis: Äußerungen erhalten ihre Bedeutung erst in Bezug auf die mentalen Zustände des sie Äußernden – was jemand mit einer Äußerung meint, ergibt sich erst durch die Annahme dessen, was er denkt und glaubt – und gleichzeitig können wir die Überzeugungen unseres Gegenübers nur durch das erschließen, was er äußert. Um diesen Kreis zu durchbrechen, sollten wir erstmal davon ausgehen, dass Äußerungen rational sind und die Überzeugungen des anderen weitgehend wahr. Das ist eine Arbeitshypothese, die sich im weiteren Verlauf der kommunikativen Interaktion da wo nötig anpassen lässt, so lang bis wir zu einer funktionierenden Vorstellung von intendierter Bedeutung und dahinterstehenden Überzeugungen gelangen.
Das klingt in dieser Formulierung vielleicht etwas technisch. In der Auseinandersetzung mit den Argumenten anderer ist das Prinzip der wohlwollenden Interpretation aber etwas, das ich mit der Zeit sehr schätzen gelernt habe. Ich erinnere mich etwa noch gut an meinen ersten Kontakt mit Wittgensteins Spätwerk, das mich zunächst sehr an Äußerungen geistig Verwirrter erinnerte. Meine Kommilitonen in der Physik, denen ich meine philosophische Neuentdeckung präsentierte, amüsierten sich sehr darüber und fühlten sich darin bestärkt, nie einen Fuß ins Philosophieinstitut gesetzt zu haben. Aber je länger ich mit meinen Kommilitonen aus der Philosophie Aphorismus für Aphorismus nach Bedeutung durchforstete, desto weniger absurd kamen mir Wittgensteins Beobachtungen vor, und ich habe wahrscheinlich selten so viel Spannendes entdeckt wie in diesem Seminar. Denn es ist ja eine Tatsache: Am meisten kann man von denen lernen, die anderer Meinung sind als man selbst. Man muss nur bereit sein, diejenigen Aspekte zu finden, die das eigene Denken bereichern können.
Sehr viel häufiger trifft man in Diskussionen allerdings die gegenteilige Strategie: Das Strohmann-Argument. Man verkürzt und verzerrt das gegnerische Argument in solchem Maße, dass es offensichtlich unsinnig erscheint und die eigene Gegenargumentation entsprechend leicht fällt. Auch einige Professoren waren Meister darin, ihre Opponenten derart konsequent in dieser Weise darzustellen, dass ich irgendwann sehr überrascht war, als ich doch auch einmal die verhassten Originalschriften in die Hand nahm.
Die weite Verbreitung der Strohmann-Strategie ist nicht übermäßig erstaunlich, weil sie natürlich so viel leichter fällt als das Principle of Charity – denn das ist in der Tat ein extrem mühsamer und auch zeitaufwändiger Weg. Ich habe das im vergangenen Jahr einmal mit einem Covid-Maßnahmenkritiker einen Nachmittag lang durchgespielt, indem ich ihn immer weiter nach den Gründen für seine Meinungen gefragt habe, bis wir schließlich bei einer seiner dahinterstehenden Grundüberzeugungen angekommen waren, von der ich sicher sagen konnte, dass ich sie unter keinen Umständen teile (das war: “Man sollte den Schwachen in unserer Gesellschaft nicht um jeden Preis helfen, sondern sie im Zweifel lieber in Würde sterben lassen”). Seitdem weiß ich wenigstens, dass wir wirklich fundamental unvereinbare Einstellungen haben, und unser Konflikt nicht einfach nur auf Emotionen und Missverständnissen beruht. Es kommt tatsächlich auch nicht selten vor, dass einen solche Diskussionen in Schleifen oder auf Widersprüche oder offensichtliche Lügen führen, aber auch dann weiß man immerhin genau, an welchen Stellen die Kommunikation gescheitert ist.
Insbesondere für Talkshows ist das Principle of Charity natürlich eher ungeeignet. Wer dort versucht, den Andersmeinenden zuerst möglichst gut zu verstehen, bevor zur Gegenargumentation übergegangen wird, nimmt einen Nachteil in Kauf. Wer dagegen behauptet, die Gesprächsteilnehmerin habe offensichtlich gar nichts verstanden, kann sich viele anstrengende Argumentationsschritte sparen. Aber das ist dann eine so deutliche Nichtanwendung des Principle of Charity, dass ein solches Diskussionsverhalten eigentlich unter der Würde jedes Diskutierenden sein sollte, der sich auch nur entfernt für Philosophie, und damit für die Kunst des Denkens und Argumentierens, interessiert.
Auf Twitter und allgemein in den sozialen Medien ist es natürlich ebenfalls leicht, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation zu ignorieren. Der Zwang zur knappen Ausdrucksweise öffnet viele Möglichkeiten, den anderen absichtlich falsch zu verstehen. Aber anders als in Talkshows ist es ist zumindest nicht unmöglich, das Prinzip anzuwenden. Zumal es in den sozialen Medien leicht fällt, Zugang zu Andersmeinenden zu bekommen und deren Denken zu ergründen. Wie man die sozialen Medien grundsätzlich verteufeln aber Freude an polarisierenden Talkshows haben kann, ist mir vor diesem Hintergrund ein Rätsel.
Sibylle Anderl, Montagsblock /190
03. Oktober 2022