Gibt es eine Polarisierung in der Gesellschaft? Und wer hat ein Interesse an „Polarisierung“? Von Polarisierung wäre wohl dann zu sprechen, wenn sich eine soziale Gruppe und damit auch ihr kommunikativer Haushalt an einer Demarkationslinie scheidet, die gleichzeitig unterschiedlichste Themen diskriminiert – wie es in den USA tatsächlich zu beobachten ist. Polarität in diesem Sinne würde alle Themen, alle Unterscheidungen, alle Prozesse, auch die Anerkennung von Personen durch die eigene Unterscheidung kontaminieren, alles andere wäre dem untergeordnet. Es wäre gewissermaßen der „Hauptwiderspruch“, der alles andere unterjocht.
Zumindest empirische Ergebnisse (etwa von Thomas Lux, Steffen Mau und Aljoscha Jacobi*) zeigen für Deutschland sehr deutlich, dass es zwar eine Radikalisierung an den Rändern gibt, aber ansonsten keine Polarisierungstendenzen wie etwa in den Vereinigten Staaten. Interessant wäre die Frage, was man unter einer Polarisierung verstehen sollte. Genau genommen polarisiert jede Unterscheidung, aber das hieße, dass der Begriff selbst keinen Informationswert mehr besitzen würde. Das Unterscheiden lässt sich nicht vermeiden – schon dass man zwischen Vermeidung und Nicht-Vermeidung unterscheidet, wäre dann Ausdruck einer Polarität.
Dass dennoch der Eindruck von Polarisierung in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung entsteht, liegt daran, dass in den sich überlagernden Krisen eingeführte Unterscheidungen und Konfliktlinien die Konflikte kaum mehr moderieren können. In Systemen, die so leidlich vor sich hinoperieren und wenig Abweichung und Routineunterbrechung erleben, etablieren sich dafür dann auch Routinen für Konflikte. Man weiß, wer die Guten sind, wer die Bösen, man schätzt sich für das, was man aneinander nicht schätzt, und ist ausrechenbarer, als es dem Selbstbild einer frei diskutierenden Öffentlichkeit guttut. In solchen Situationen gelingt es der inhärenten Trägheit von Systemen, zu starke Ausschläge zu vermeiden und sich für starke Umwelteinflüsse mehr oder weniger immun zu machen. Man kann sich dann für weit weg von extremen Konfliktlagen halten und diese Konfliktlagen trotz expliziter Wahrnehmung ignorieren; man kann wissen, dass die Kumulation der eigenen Handlungsfolgen sich irgendwann auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten auswirkt, ohne dass das zu stärkeren Instabilitäten führt.
Die Trägheit von Systemen ist Fluch und Segen zugleich. Komplexe Systeme bauen auch ihren Widerspruch in sich selbst ein, wir kennen das vor allem als die Zivilisierung von Konflikten und die Erwartbarkeit von Abweichungen. Das ermöglicht es, Abweichungen nicht nur wegzumoderieren, sondern folgenreich werden zu lassen. Veränderungen dürften dann wahrscheinlicher sein, wenn es nicht in jeder Detailfrage ums Ganze geht. Der Konflikt in einer konkreten Frage liefe dann nicht Gefahr, alle anderen Konfliktfragen zu kontaminieren – woraus dann eine zumindest kommunikativ wirksame Polarisierung entstehen könnte.
Vielleicht unterscheiden sich Krisenzeiten von anderen vor allem dadurch, dass diese Routinen unterbrochen werden – und diese Unterbrechungen nehmen wir meistens gar nicht an den krisenhaften Dingen selbst wahr – am Klima, an Kriegshandlungen, an demografischen Effekten oder Infektionsraten. Der entscheidende Indikator findet sich zumeist im gesellschaftlichen Kommunikationshaushalt selbst, vor allem im öffentlichen. Die Stabilität dieses Haushalts rührt ja nicht daher, dass es Konsense gibt und die Leute einer Meinung seien. Die Stabilität ist eher eine Funktion der Tatsache, wie solche Systeme Abweichung verarbeiten, Gegensätzliches institutionalisieren und Konflikte geradezu integrativ nutzen, damit sie nicht zu sehr verunsichern. Als krisenhaft erscheint das dann, wenn Abweichung schwerer zu verarbeiten ist, Gegensätzliches frei flottiert und Konflikte desintegrieren. Die Alternativen werden dann so exkludierend, dass sie nicht mehr auf einem Kontinuum stehen und deshalb weniger Unterscheidungen als Unterschiede sind.
Damit haben wir es gerade wohl in mehrfacher Hinsicht zu tun. Ein schönes Symptom dafür ist, dass sich diejenigen, die meinen, abweichende Meinungen zu vertreten (wovon abweichend ist oft gar nicht so klar), sich in einer merkwürdigen Melange aus selbstwahrgenommener Marginalisierung und medialer Dauerpräsenz wiederfinden. Der Effekt ist ein veritabler performativer Selbstwiderspruch. Es erscheinen Bücher von Autoren, deren Geschäftsmodell ausschließlich in der eigenen Medienpräsenz besteht und die sich darin beklagen, sie kämen nicht angemessen zu Wort. Ähnliches findet sich bei öffentlichen Autoren (gerne aus der akademischen Welt), die krude Thesen vertreten und sich dann wundern, dass sie argumentativ für wenig satisfaktionsfähig gehalten werden – man erfährt aber von ihnen, weil sie dauerpräsent sind. Den Hinweis, dass sie nicht satisfaktionsfähig sind, will heißen: dass aus einer direkten Auseinandersetzung mit ihnen nichts folgen kann, stilisieren sie als Bestätigung ihrer kruden Thesen, was dann wieder medial interessant ist, und wenn auch manchmal nur in Medien, die in diesen Krisenzeiten ihr Geschäftsmodell darauf aufbauen, kein Mainstream zu sein. Es sind sogar schon irrlichternde Journalisten gesichtet worden, die sich virologisch für so großartig halten, dass sie Koryphäen auf dem Gebiet ihre Wissenschaftlichkeit absprechen.
All das ist unangenehm, aber weit davon entfernt, einer Polarisierungsdiagnose das Wort zu reden, auch wenn das Geschäftsmodell dieser Leute genau darin besteht, das herzuschreiben – und sie bekommen dafür auch alle möglichen Bühnen, weil die Logik des Mediensystems darin besteht, dass die Dinge nach Informationswert geordnet werden, und der Informationswert ist nicht nur eine Kategorie in der Sachdimension sondern auch eine in der Zeitdimension: Es muss jetzt die Überraschung sein, die den Unterschied macht, selbst wenn es sich wiederholt. Markenbildung trägt dazu auch bei.
Aber es hat durchaus einen Effekt, der schon im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise zu beobachten war. Es ist hier vor allem dem rechten Rand gelungen, mit Radikalisierungen so viel Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass der sonstige kommunikative Haushalt der Gesellschaft empfindlich gestört wurde. Die Systemleistung, auch Abweichungen, Kritik, Alternativen zu integrieren und damit für Bandbreite zu sorgen, aber auch für Bewegung zwischen den Positionen, wurde damit zumindest gestört. Konkret hieß das, dass die Krisensituation vor allem darin bestand, dass so etwas wie eine kontroverse Auseinandersetzung über Flucht- und Migrationsfragen nicht mehr möglich war, weil der Konflikt aus den trägen Verfahren und Routinen der Gesellschaft heraustrat und jeder Satz zu einem Pro oder Contra kondensierte, was jegliche Nuance erledigt hat. Diese Situation hat dazu geführt, dass in Deutschland Rechtsradikale in die Parlamente gewählt wurden, deren Existenz selbst geradezu ästhetisch demonstriert, dass sie zwar drin sind, aber von der Konfliktlogik her draußen. Das heißt freilich nicht, dass sie ohne Wirkung bleiben.
Ähnliches wiederholt sich bei den nachfolgenden Krisen – namentlich an der Pandemie und an den Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg. Eine kontroverse Diskussion zu beiden Komplexen wird zumindest dadurch erschwert, dass die Konfliktroutinen und Formen selbst nicht wirklich funktionieren, sondern eine gewissermaßen dritte Position die bisherigen Differenzen nivelliert.
Eine moralische Kritik dieses Problems, überhaupt eine starke Moralisierung hilft nicht recht weiter, sondern stabilisiert diese Instabilität noch. Komplexe Systeme etablieren nicht nur interne Differenzen und Konflikt, sondern auch Formen ihrer Verarbeitung, um daraus eine interne Form der Komplexität zu erzeugen, mit der man auf Herausforderungen reagieren kann. Die Umformung solcher Formen in ein bloßes Pro und Contra ist dagegen die denkbar einfachste Verarbeitungsregel und verhindert einen internen Aufbau von Komplexität geradezu. Wäre es eine Strategie, wäre es eine geradezu subversive Form, das System zu destabilisieren, weil es die internen Mechanismen der Verarbeitung und des Aufbaus (sic!) von Abweichung empfindlich stören kann. Etwas plakativ: Wenn alle Demokraten dagegen zusammenhalten müssen, können sie ihr demokratisches Geschäft nicht mehr betreiben, nämlich dem Konflikt eine Form zu geben. Sie müssen Konsens simulieren, und das ist gerade nicht das Geschäft des politischen Programms der Demokratie.
Dirk Baecker hat letzte Woche in der „Kulturzeit“ (3Sat) gezeigt, dass die Stilisierung gegen das System unweigerlich auch im System stattfinden muss – wo auch sonst? Das heißt aber auch, dass man solche Formen nicht einfach loswerden kann und dass der Krisenmodus der Kommunikation gerade deswegen für Krisenzeiten geradezu insuffizient ist. Erinnert man sich daran, wie während der sog. Flüchtlingskrise gerade die extremen „Systemkritiker“ verhindert haben, dass im System nicht nur gegen sie, sondern auch kontrovers diskutiert werden konnte, wäre das ein Plädoyer dafür, nicht der Polarisierungsthese das Wort zu reden, sondern dieser Form der Kritik endlich recht zu geben und sie in ihrer Selbstbeschreibung zu bestätigen: sie also zu marginalisieren, damit man endlich wieder wirksame Kritik formulieren kann. Denn ein Claim auf Einförmigkeit und Widerspruchslosigkeit wäre tatsächlich ein Krisenphänomen, auf das Polarisierung geradezu notwendig folgen würde. Blöd ist nur, dass eine Aufforderung zum Ignorieren von offenkundigem Unsinn in einen performativen Widerspruch gerät, weil das Ignorieren damit hintertrieben wird.
Vgl. Thomas Lux, Steffen Mau und Aljoscha Jacobi: Neue Ungleichheitsfragen, neue Cleavages? Ein internationaler Vergleich der Einstellungen in vier Ungleichheitsfeldern, in: Berliner Journal für Soziologie 32 (2022), S. 173-212.
Montagsblock /189, Armin Nassehi
26. September 2022