Montagsblock /188

Salomon Elliot Asch, ein Pionier der Sozialpsychologie, führte 1951 das sogenannte Konformitätsexperiment durch. Die Versuchsanordnung: Ein Konferenztisch, an dem mehrere Personen sitzen. Alle sind eingeweiht. Ein Proband betritt die Versuchsanordnung, er oder sie nehmen aber fälschlicherweise an, dass sie eine(r) unter vielen sind. Auf dem Tisch liegen zwei Karten: Auf der einen Karte ist eine gerade Linie gezogen, auf der anderen sind es drei weitere, unterschiedlich lange Striche: ein kürzerer, einer so lang wie die Linie auf der Einzelkarte und ein längerer. Die Versuchsleiter stellen nun allen Beteiligten die Frage, welche der drei Linien genau so lang ist wie die Linie auf der einzelnen Karte. Die Trojaner unter den eingeweihten Personen behaupten wiederum steif und fest, dass die kürzere Linie die richtige sei. Die Folge: Bei einem Drittel der Durchgänge schließen sich die Probanden dem falschen Urteil an. Man will zur Mehrheit gehören, verhält sich konform zur Meinungsdominanz.

Systemisch gesehen koppelt Konformität ähnlich. In modernen Gesellschaften versuchen zahlreiche Antreiber und Anstifter, je eigene Konformitätsräume (=Striche) und Entscheidungsofferten (=Trojaner) zu bauen. Daraus entstehen je eigene soziale Sinnstiftungsprozesse und übergeordnete Blasen oder Hegemonien. Vielfalt, Wirrwarr, Unterholz, Gestrüpp. Wer kann da noch kompetente Entscheidungsfindungen garantieren? Kann man überhaupt noch das Richtige tun oder denken? Der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin hat das Thema an einem illustren Beispiel erklärt. „Nehmen wir an, dass ein einigermaßen wohlhabender Mann mehrere Kinder hat, von denen eines blind ist, ein anderes ein Playboy mit kostspieligen Vorhaben, ein drittes ein angehender Politiker mit teuren Ambitionen, ein weiteres ein Dichter mit bescheidenen Bedürfnissen, ein fünftes ein Bildhauer, der mit teuren Materialien arbeitet, und so weiter. Wie soll er sein Testament gestalten?“

Darauf gibt es, wenn man im obigen Versuchsbild bleiben will, zwei unterschiedlich lange Argumentationsstriche. Einmal bekäme gemäß dem Prinzip der „Ressourcengleichheit“ (langer Strich) jedes Kind gleich viel vom Kuchen. Es würde maximale Verteilungsgleichheit herrschen. Alle Kinder würden gleich berücksichtigt (20%+20%+20%+20%+20%=100%). Wenn unser Vererber hingegen „Wohlergehensgleichheit“ (kürzerer Strich) anstreben würde, würde er das Vermögen sehr unterschiedlich verteilen, je nachdem, wie er Wohlergehen definiert. So könnte er für sich plausibel rechtfertigen, dem behinderten Kind mehr vom Erbe zukommen zu lassen als dem Playboy. Sprich: Das geringere Wohlergehen mit mehr Ressourcen ausgleichen. (5%+10%+15%+30%+40%=100%)

Welcher Regel wollen wir uns anschließen? Gar nicht so einfach, denn beide Prinzipien basieren gleichermaßen auf Plausibilität und Paradoxien. Kurze Erläuterung: Wer Wohlergehensgleichheit will, erntet Ressourcenungleichheit in der Verteilung (der Playboy bekommt weniger vom Erbe). Und umgekehrt: Wer Ressourcengleichheit will, wird Wohlergehensungleichheit in Kauf nehmen müssen (das behinderte Kind erhält zu wenig, um ein zumindest materiell ebenbürtiges Leben führen zu können). In der Konsequenz bedeutet das: Würde das behinderte Kind mehr Vermögen bekommen, würde das erfolgsambitionierte Kind ungleich behandelt. Würden beide gleich viel Vermögen erhalten, würde das behinderte Kind eingeschränkt sein, sein Wohlergehen zu erhöhen.

Die kundigen Montagsblock-Leser*innen haben längst erkannt, wohin ich die Spur legen will. Es geht um die kommenden Verteilungsdebatten in einem Land, in dem vermutlich bald immer mehr Menschen auf weniger Ressourcen und/oder Wohlergehen zurückgreifen können. Wind frischt auf. In den Tarifauseinandersetzungen werden inflationsbedingt hohe Lohnsteigerungen zur Kompensation gefordert. Steigende Energiepreise verschlingen angesparte Ressourcen, was womöglich zu mehr privaten und unternehmerischen Schieflagen bis Insolvenzen führen könnte. Wie kann man kurz vor dem „Horrorwinter“ allen Menschen gerecht werden? Ach, wie schön wäre die eine richtige, von allen geliebte und anerkannte Gesamtlösung.

Singin:

Mehr Geld für alle, auf die Kralle! …

Schu-, Schul-, Schuldenbremse, bleib uns treu! …

Inflation, you drive me crazy …

Bürger, lasst das Glotzen sein …

Aus den paradoxen Konformitätszonen gibt es kein Entrinnen. Jeder beharrt auf seinen Strich, exakt richtig. Unterdessen trommeln Trojaner aus allen Richtungen und ziehen neue Striche. Über kurz oder lang.

Soziologischer Reflexkanon: Die moderne Gesellschaft kann sich nicht mehr als Ganzes präsentieren, weil die unterschiedlichen Argumentationsgegenwarten eine je eigene Reflexivität und Operativität erzeugen. Aus denen dann in der Tat Lösungen entspringen können, die punktuell kompetent sind und praktiziert werden können. Der dazugehörige Begründungstreibsand in Form von Widersprüchen, Antinomien und Paradoxa schwingt als anschlusskommunikativer Resonanzboden immer mit.

Und die SingerSongWriter in den Medien jammen und jammern. Strompreisgrenze, Entlastungspaket, Unternehmensschirme, Heizungszuschüsse, Bürgergeld, Übergewinnsteuern, Klimaschutzfonds, soziale Fürsorge, versorgt werden, sich um sich selbst sorgen, Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit …

Gewissheiten, Selbstherrlichkeiten und Eindeutigkeiten bröckeln, bröseln und brümmeln. Mehrheit, welche Mehrheit?

Peter Felixberger, Montagsblock /188

19. September 2022