Montagsblock /186

Jean Baudrillard hat vor über 20 Jahren, anlässlich des terroristischen Angriffs vom 11. September 2001 auf Ziele in den Vereinigten Staaten die These vertreten, es habe sich beim Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers in Manhattan nicht um ein reales Ereignis gehandelt. Dabei behauptete er nicht, dass das Ereignis nicht stattgefunden hätte, auch nicht, dass dieses Ereignis zunächst ein „Bild“ war, sogar eines in Echtzeit, dessen realistischer Schauder ihnen zunächst hinterherhinkte. Das Ereignis sei vor allem deshalb nicht „real“ gewesen, weil es nur ein „symbolischer“ Akt war, weil es nicht die Gewalt selbst als Wirkmacht zur Durchsetzung ihrer Ziele war, sondern allein ihr symbolischer Gehalt, ihre Repräsentationsmacht. Etwas Ähnliches meinte damals wohl auch der unglückliche Karl-Heinz Stockhausen, der in dem Ereignis ein „Kunstwerk“ sehen wollte, es ihm aber nicht gelang, den Zynismus der Beobachtung als Erkenntnismittel sichtbar einzusetzen, womit er sich um Kopf und Kragen geredet hat. Er ist damals das Opfer einer „realistischen“ Betrachtung des Ereignisses geworden.

Was Baudrillard (und wohl auch Stockhausen) damals sagen wollten, war dies: Die eingesetzte Gewalt stand für etwas anderes als das, was „real“ geschah. Es ging nicht um zwei Hochhäuser, nicht einmal um einige tausend Tote, schon gar nicht um exakt diese Toten, es ging nicht um die Zerstörung selbst, sondern darum, dass man sie sehen konnte und interpretieren musste. Die „Realität“ sei ein Prinzip, schreibt Baudrillard, „und es ist dieses Prinzip, das wir verloren haben.“ Was aber ist das „Prinzip der Realität“?

Das Prinzip der Realität, von dem Baudrillard hier spricht, steht wohl für eine Identität von Ereignis und Bedeutung, was hier schon dadurch korrumpiert wurde, dass das Ereignis im wahrsten Sinne nur symbolisch gedeutet werden konnte und auch die Akteure keine solchen sind, die man aus der „Realität“ des Krieges kennt. Wohl auch deswegen haben die Angegriffenen so schnell wie möglich versucht, „Realität“ zu schaffen. Das It’s War von George W. Bush war keine Beschreibung, sondern eine realitätserzeugende Maßnahme. Man war sehr schnell dabei, das Ereignis einen „Krieg“ zu nennen. Und weil man gewohnt war, dass der Gegner in einem Krieg ein symmetrischer Gegner ist, also ein Staat, musste man sich eine Realität erzeugen. Die späteren Reaktionen gegenüber Afghanistan und dem Irak waren deshalb so „realistisch“, weil sie mit Macht eine solche Symmetrie hergestellt haben, die man mit dem Begriff des Krieges kategorial in den Griff bekommen konnte. Es hat fast etwas Ironisches, dass es ausreicht, reale Hochhäuser zum Einsturz zu bringen, um etwas Irreales zu tun, während man einen Gegner geradezu irreal narrativ erzeugen muss, um ihn real anzugreifen zu können.

Anders als die medial vermittelte Zerstörung der Twin-Towers in Manhattan, deren filmhafte Irrealität sie erst zu einem real wirksamen symbolischen Ereignis gemacht hat, ging es nun um klassische Kriegskunst: um Geländegewinne und die Tötung konkreter Personen, um die Kontrolle über Gebiete und Regierungen, um das Abschneiden von Versorgungswegen und Logistik, um die Demonstration totaler Macht und nicht zuletzt um die Repräsentation von Führerschaft und Kontrolle. Dieser Krieg beobachtete anders als die Anschläge, die mit den Bildern spielen, die dieser gar nicht erst sichtbar machen will. Schlicht: Es ist Krieg – eine Auskunft, die man stets dann zu hören bekommt, wenn die Realität des Geschehens festgezurrt werden soll.

Jetzt ist es umgekehrt. Russland versucht mit allen Mitteln, die Realität des Krieges dadurch zu leugnen, dass es den Begriff nicht verwendet, obwohl hier die „Realität“ eine andere Sprache spricht. Ein souveräner Staat greift einen anderen an, klassischer geht es nicht – in der „Realität“ jedenfalls sind die Kategorien ziemlich klar, und vielleicht besteht der Schrecken dieses Krieges für die westliche Öffentlichkeit auch darin, dass er so sehr allem ähnelt, was üblicherweise Krieg hieß. Nur der Angreifer will sich dieser Realität nicht fügen, obwohl er sie hergestellt hat und jeden Tag neu herstellt. Wäre es nur etwas Symbolisches, könnte dieser Angreifer einfach aufhören, denn er hat gezeigt, dass er es kann (wenn auch, glaubt man den Experten, nur stümperhaft und logistisch insuffizient). Aber er leugnet das Kriegerische, nur um diesen Krieg besonders klassisch zu führen: ein Kampf um Raum, ein Eroberungsfeldzug, dem die staatliche Einverleibung folgen soll und ein Narrativ, das nicht einfach Angst und Schrecken verbreiten, sondern neue Realitäten erzeugen soll – staatliche Realitäten nämlich.

Die Anschläge von 2001 waren kein Krieg, dieser hier will keiner sein. Nach 2001 wurde der Ausweg dann im Krieg gesucht – das Resultat ist bekannt: Genützt hat es niemandem, aber die kategoriale Ordnung stimmte. Jetzt stimmt die kategoriale Ordnung nicht, aber die „Realität“ bricht sich Bahn – eine Realität, die viele mitten in Europa nicht für möglich gehalten haben. Vielleicht würde Baudrillard heute sagen, dass das Ereignis so real ist, dass wir kaum glauben können, was da passiert.

Zum Krieg gegen den Terror nach 9/11 vgl. schon Armin Nassehi: Der Erste Welt-Krieg. Oder: Der Beobachter als revolutionäres Subjekt, in: Dirk Baecker, Fritz Simon und Peter Krieg (Hg.): Terror im System: Der 11. September und die Folgen, Heidelberg 2002, S. 175-200.

Armin Nassehi, Montagsblock /186

05. September 2022