Montagsblock /182

„Nur ein hauchdünner Vorhang trennt die Wirklichkeit von der Fantasie.“ Dieser Satz stammt von der amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus. Sie spielt darauf an, wie sich unser Gedächtnis von noch so jeder kleinen Suggestion naseführen lässt. Ihr berühmtestes Experiment: Lost in the Mall, verloren im Einkaufszentrum. Zu diesem Zweck bereitete sie für 24 Versuchsteilnehmer*innen ein kleines Heft vor, das drei tatsächliche Kindheitserinnerungen von Familienmitgliedern und einen frei erfundenen Bericht enthielt, wie die Probanden einst als 5-jährige Kinder in einem Supermarkt verloren gingen und von einem Erwachsenen gerettet wurden. Jeder Bericht war abgestimmt mit anderen Familienangehörigen.

In der Folge bat man die Kandidaten, ihre Erinnerungen an die jeweiligen Ereignisse aufzuschreiben. Das verblüffende Ergebnis: Ein Viertel der Befragten breitete in teilweise weitschweifigen Erzählungen ihre “Lost in the Mall”-Geschichte aus. Obwohl diese definitiv nie stattgefunden hatte. Eine Kostprobe: „Ich hatte an dem Tag totale Angst, meine Familie nie wieder zu sehen. Ich wusste, dass ich in eine aussichtslose Situation geraten war.” Als man die Versuchsteilnehmer über die Täuschung aufklärte, waren die meisten überrascht bis erschrocken.

In der Psychopathologie nennt man das eine Konfabulation. Fantasie ersetzt Wirklichkeit. Oder wie wir tolerante Menschenversteher es interpretieren: Fantasie bereichert Wirklichkeit. Macht sie bunter und schillernder. Erweitert sie um Erlebnisse, die man gar nicht hatte, aber für wahr hält. Wir müssen an dieser Stelle unbedingt den amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger hinzubitten, der sich weitere Verdienste auf diesem Forschungsfeld erworben hat. Er ist der Entdecker der kognitiven Dissonanz, welche besagt: die Kluft zwischen dem, was man glaubt, und dem, was tatsächlich geschieht, wird nicht erkannt. Eine besondere dissonante Form ist, wenn man sich konträr zu seinen Überzeugungen verhält, ohne dass es dafür einen konkreten Anlass gibt.

Aktuelles Beispiel: Atomkraft. Unsere wissenschaftlich konsistente Überzeugung basiert auf dem Befund, dass diese Energieform in jeder Hinsicht (Atommüll, AKW-Havariegefahr, Super-GAU usw.) zu gefährlich sei und deshalb abgeschaltet werden müsse. Unsere Dissonanz wird hingegen von der Annahme genährt, dass ein fiktiv steigender Gaspreis aufgrund sinkender russischer Gaslieferungen zu kalten Wohnzimmern und Büros führen würde. Im nächsten Winter würden wir deshalb in eine aussichtslose Situation geraten. Der Iwan dreht am Gashahn und wir frieren. Deshalb wird Energiesparen zur Bürgerpflicht. BILD titelte letzte Woche: „Klimaanlagen, Aufzüge, Warmwasser – Alles abschalten“. Nur nicht die letzten AKWs, die sollen entgegen aller Rationalität weiterlaufen und helfen, die Energieversorgung in der kalten Jahreszeit zu sichern.

Hinzu kommt eine weitere Kapriole: Die kognitive Dissonanz kann für die Betroffenen nur geschlossen werden, wenn man möglichst viele Unterstützer um sich schart und den Glauben stärkt, alle zusammen können sich gar nicht täuschen (Rauchercontainer auf Flughäfen, BILD-Schlagzeilen, Stammtische, Parteigremien, Koalitionssitzungen). Um die Kluft der kognitiven Dissonanz nicht wirksam werden zu lassen, vollführen Menschen die erstaunlichsten Begründungsverrenkungen. In Baden-Württemberg wurde jüngst auf dem Gas-Krisengipfel beschlossen: „Die Mitarbeiter (in Behörden) sollen die Treppe nehmen, statt des Aufzugs.“ Nur um sicher zu gehen, dass ich nicht einige technologische Fortschritte versäumt habe: Ein Aufzug hilft doch Menschen mit körperlichen Einschränkungen (und nicht nur ihnen), von einem Stockwerk ins nächste zu kommen?

Kein Wunder, wenn sich die Akteure zuvorderst mit Informationen und Menschen umgeben, die ihre Dissonanzen als normal bestätigen. Habeck duscht kürzer, Scholz duscht kälter und Baerbock benutzt Trockenshampoo (ok, die beiden letzteren sind konfabuliert). Ex-EU-Kommissar Günter Oettinger jedenfalls wusste es schon früh: „Der Chinese duscht kürzer und kälter.“ Egal, in der kognitiven Dissonanz kämpft jeder als Ritter seiner eigenen Wirklichkeitsverluste. Hauptsache, das eigene Gewissen wird sediert, wenn im Hallenbad, wie kürzlich in Hannover, das warme Duschwasser abgestellt wird.

Wir halten uns deshalb, solange es noch geht, an die aktuelle Nachrichtenlage: „Nur wenige Tage nach der Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 reduziert Gazprom die Lieferungen ab 27. Juli auf nur noch rund 20 Prozent. Eine weitere Turbine müsse wegen Wartung außer Betrieb gesetzt werden, teilt das Unternehmen zur Begründung mit.“

Egal, wenn’s sein muss, duschen wir halt den ganzen nächsten Winter nicht. Im Homeoffice merkt’s eh keiner. Und im Schnee wälzen härtet ab. Adé, du schöner Schweißausbruch des Sommers!

Peter Felixberger, Montagsblock /182

01 August 2022