Begeben wir uns auf vermintes Gelände. Nein, ich schreibe hier nicht über einen Vortrag, der an der HU Berlin abgesagt und dann doch gehalten wurde, und auch nicht über das ganze Bohai danach, in dem man sich gegenseitig politisch instrumentalisiert hat. Ich will auch nicht darüber entscheiden, wer die entscheidende Expertise besitzt – die Biologie, die Soziologie oder vielleicht geht es hier gar nicht primär um wissenschaftliche Fragen (was am ehesten anzunehmen ist)? Ich habe die Expertise jedenfalls nicht. Aber ich habe eine Frage.
Wenn man diesen Diskurs über die angemessene Bestimmung der Zahl der Geschlechter mit einiger Distanz beobachtet und dies tatsächlich unvoreingenommen betreibt, fällt zumindest mir eine Merkwürdigkeit auf. Beide Seiten betonen mit rigoroser Verve, dass es selbstverständlich nur zwei Geschlechter gebe bzw. dass es dem Forschungsstand eindeutig entspreche, dass es nicht so sei und in der Natur Kontinuitäten vorkommen, je nachdem welche Form der Beobachtung man wählt. Wenn ich es richtig verstehe, ist die Zweigeschlechtlichkeit dann plausibel und kaum widerlegbar, wenn man allein auf die Fortpflanzungsfunktion blickt und wenn man konzediert, dass auch von einem als Standardmodell vorausgesetzten anisogamen Modell abweichende Formen als Abweichung dechiffrierbar sind, die die Zweigeschlechtlichkeit in dieser Hinsicht nicht in Frage stellen. Und wenn ich es weiter richtig verstehe, lassen sich tatsächlich in anderen Hinsichten, etwa bezüglich Hormonstatus und anderen Parametern, Relativierungen dieser Form der Zweigeschlechtlichkeit beobachten sowie Formen, in denen es zu einer Unbestimmtheit kommt, die aber an der prinzipiellen biologischen Funktion der anisogamen Form der geschlechtlichen Fortpflanzungsfunktion nicht rüttelt – zumindest nicht bei Organismen, die dem Menschen ähnlich sind.
Nun ist der Streitpunkt, um den es öffentlich geht, kein biologischer. Der Streit geht, so beobachte ich es von außen, zum einen darum, ob mit der Begründung der anisogamen Form der Fortpflanzungsfunktion bereits alles über Männlichkeit und Weiblichkeit gesagt sei – was heute niemand ernsthaft behaupten kann, ganz abgesehen davon, dass diese beiden Zurechnungen kulturell viel mehr meinen als die Fortpflanzungsfunktion. Zum anderen geht es um die Anerkennung dritter und weiterer Geschlechtsbezeichnungen und möglicher Transitionen, die ohne Zweifel in erster Linie nicht biologischer Natur sind, sondern kultureller, gesellschaftlicher Natur. Die Kulturgeschichte kennt unzählige Formen geschlechtlicher Zuschreibungen, wie vor allem die Ethnologie zeigen kann – und es ist ein ziemlich gutes Argument, daraus zu schließen, dass die strikte Zuschreibung auf Männer und Frauen keineswegs durch biologische Determination beschränkt sein muss. Es geht auch anders – und eine inzwischen pluralere Kultur kann auch anders, sie nimmt damit selbstverständlich die Symmetrieversprechungen der Moderne in Anspruch (so ähnlich letztens auch Villa Braslavsky hier ).
Es ist ein Kampf um Anerkennung, um angemessene Lebensformen, um die Liberalisierung individueller Wahl und nicht zuletzt um inzwischen verfügbare medizinische Möglichkeiten des körperlichen Geschlechtswechsels, der in seiner Praxis die Zweigeschlechtlichkeit eher bestätigt als widerlegt – und zwar sowohl die biologische als auch die soziale, wie berühmte soziologische Studien darüber zeigen, wie ein Geschlechtswechsel von der sozialen Bestätigung abhängig ist, von anderen nun in einem anderen Geschlecht wahrgenommen zu werden – zumindest so lange eine Kultur sich auf die eindeutige Bezeichnung ihres Personals als männlich und weiblich festlegt und so lange der Wunsch der Betroffenen gerade der ist, ein bestimmtes Geschlecht zu erwerben.
Auch davon verstehen andere viel mehr als ich. Aber was mir völlig unklar bleibt, ist die Frage, warum der Diskurs um Transmenschen oder nicht-binäre Menschen oder wie die selbst- und fremdgewählten Bezeichnungen heißen, auch über die sozialen Folgen solcher Diskurse und Öffnungen, so sehr auf biologische Flankierung setzt? Braucht man überhaupt die Biologie, um diesen Diskurs zu führen – wohl wissend, dass die Biologie ihrerseits als Naturwissenschaft nicht die Welt als solche wahrnimmt, sondern ausschließlich mit ihren Begriffen, Methoden, Hinsichten und Perspektiven? Ist es nicht eine merkwürdige Re-Naturalisierung des Diskurses, wenn er einerseits in Anspruch nimmt, dass sich die Frage der Zweigeschlechtlichkeit biologisch im Hinblick auf die Fragestellung verschiebt, kulturell aber gerade nicht von diesen biologischen Voraussetzungen abhängig ist, sondern eben von kulturellen/gesellschaftlichen?
Der oft verwendete Hilfsbegriff „Biosozialität“ verdeckt mehr, als er beschreibt, denn er kapituliert letztlich vor einem komplexen System-/Umwelt-Verhältnis, in dem es eben nicht auf Verschmelzung dieser beiden Seiten ankommt, sondern gerade auf operative Grenzregime. Wer auf der einen Seite behauptet, dass die Geschlechtlichkeit ein psychisches Erleben und eine soziale Erwartung ist und damit prinzipiell und historisch/ethnologisch extrem variabel – schon diese beiden Ebenen des Psychischen und des Sozialen sind nicht identisch miteinander –, kann auf der anderen Seite doch darauf verzichten, diese Variabilität unbedingt auf biologischer oder besser: körperlicher Seite wiederfinden zu müssen.
Was wäre, rein hypothetisch, wenn man biologisch nicht anders könnte, als von zwei Geschlechtern auszugehen – was unter bestimmten Hinsichten (sic!) durchaus nicht falsch ist? Würde das dann heißen, dass die kulturellen Formen pluraler Selbstbeschreibungen damit illegitim und obsolet werden? Eher nicht, denn dann hätte man sich auf die naturalisierenden Argumente jener eingelassen, die von einer „natürlichen“ Bestimmung von Männern und Frauen ausgehen. Ebenso wenig wird kaum jemand, der die Kontinuität der Geschlechterunterschiede in der Biologie betont, leugnen, dass die geschlechtliche Fortpflanzungsfunktion beim Menschen (und den meisten Tieren) anisogam ist – wie immer man die beiden Seiten dann bezeichnet. Dass die größeren Keimzellen weiblich und die kleineren männlich genannt werden, ist ein semantisches und kein Naturphänomen. Dass das die gesellschaftlich-kulturelle Praxis der Zurechnungsformen nicht determiniert, kann man überall beobachten. Wer also die gesamte Diskussion um die Pluralisierung der Geschlechter, um die Anerkennung dritter, vierter und weiterer Geschlechter und die geschlechterpolitische Diskussion um die Konsequenzen neuer Regelungen mit dem Hinweis auf diese begriffliche Konvention für erledigt erklärt, leidet unter einem Szientismus, der die Genese wissenschaftlicher Kategorien nicht versteht.
Wer aber für die Begründung der Anerkennung solcher Formen eine eindeutige Biologie braucht, der man unbedingt den Vorrang der geschlechtlichen Binarität als Fortpflanzungsfunktion austreiben will, ist ebenso szientistisch begrenzt. Hier wird ebenso selektiv gelesen wie von denen, die das gesamte Geschlechterthema mit der fortpflanzungsrelevanten Form der Anisogamie für erledigt erklären. Man kann biologisch nicht sagen, dass es zwei (oder eben mehr) Geschlechter „gibt“. Das „es gibt“ ist schon eine selektive Form, an der weitere Implikationen hängen. Wer sich auf das „es gibt“ einlässt, macht dessen Genese meistens unsichtbar und kann dann die Hinsichten, unter denen dieses „es gibt“ gilt, gar nicht mehr unterscheiden.
Man kann an dieser Stelle behaupten, meine Rekonstruktion sei zu einfach und zu wenig informiert, geschenkt – aber es fällt sehr auf, dass diejenigen nicht-biologischen Perspektiven, die unbedingt die Biologie als Autorität ins Feld führen wollen, begierig jeden noch so kleinen Hinweis aufnehmen, der die Eindeutigkeit geschlechtlicher Bipolarität in Frage stellt. Aber warum man den Exkurs in die Biologie überhaupt braucht und welche Funktion er hat, bleibt dabei verborgen. Der permanente Hinweis darauf, dass es dazu „Forschung“ gebe, kann nicht befriedigen, denn Forschung ist eben kein Hinweis auf Eindeutigkeit. Forschung geht einerseits von epistemologischen Voraussetzungen aus, die sich der Forschung selbst zumeist entziehen – dazu gehört der gesamte Bereich der Gegenstandskonstitution. Und das gilt gleichermaßen für die Kultur-, die Sozial- und die Naturwissenschaften. Andererseits ist gerade deshalb auch Forschung mehr von Konventionen, Anschlussfähigkeiten und gruppenbezogenen Erwartungen abhängig, als es ein objektivistischer und szientistischer Blick vermuten lässt. Gerade im Kampffeld Biologie lässt sich das historisch sehr deutlich beobachten, wenn man an die Rolle der Biologie bei der „Erfindung“ des Rassismus oder bei der genetischen Bestimmung von Intelligenz erinnert. Diese Kämpfe wurden alle schon geführt.*
Also noch einmal die ernstgemeinte Frage: Wofür braucht ein Diskurs, der berechtigterweise auf die Variabilität geschlechtlicher Unterscheidungsmöglichkeiten, auf Selbstbestimmung und kulturelle Ausdrucksformen, auch auf das Recht auf bewusste Veränderungen körperlicher Dispositionen hinweist, die Biologie? Ist es ein Restglaube an die deterministische Kraft der „Natur“, nun eine deterministische Kraft einer merkwürdig indeterministischen Natur? Reicht der berechtigte Anspruch einer Anerkennung individuellen Erlebens nicht aus? Was wäre, wenn die Biologie diese ethischen und politischen Ansprüche nicht decken würde? Hätten sie dann weniger Gewicht? Oder geht es nur darum, die Geschlechtsbestimmung von der Fortpflanzungsfunktion zu trennen und endlich die Einschränkung loszuwerden, dass es sich – nur in Hinsicht auf diese Perspektive – bei biologischer Uneindeutigkeit von Geschlechtsbestimmungen im Einzelfall nicht um „Abweichungen“ und damit pathologisierbare Fälle handelt?
Die Pathologisierungszumutungen aufzuheben, lässt sich nicht biologisch begründen – wenn man das tut, hat man sich bereits auf ein naturalisierendes Spiel eingelassen, bei dem man nur verlieren kann. Pathologisierungen sind immer gesellschaftliche Konventionen, wie man etwa aus der Geschichte der psychischen Erkrankungen, der genetischen Begründung minderwertiger „Rassen“ oder aus der Pathologisierung „weiblicher“ Hormonentwicklungen am besten weiß.
Wenn es am Ende doch nur eine strategische und eine politische Frage ist, warum die Biologie für den Diskurs für so wichtig erachtet wird, dann ist es vielleicht nicht die klügste Strategie – sowohl im Hinblick auf die eigenen politischen und normativen Ziele als auch im Hinblick auf Forschung.
* Vgl. dazu Armin Nassehi: Geklonte Debatten. Über die Zeichenparadoxie der menschlichen (Körper-)Natur, die Theologie des Humangenoms und die Ästhetik seiner Erscheinung, in: Oliver Jahraus/Nina Ort (Hg.): Theorie – Prozess – Selbstreferenz. Systemtheorie und transdisziplinäre Theoriebildung, Konstanz: UVK 2003, S. 219-238; Armin Nassehi: Geschlecht, Geschlechtlichkeit, Religion. Woran liegt die Sexbesessenheit des Religiösen? In: Friedrich Wilhelm Graf und Jens-Uwe Hartmann (Hg.): Religion und Gesellschaft: Sinnstiftungssysteme im Konflikt, Berlin/Boston 2019, S. 229-236.
Montagsblock /181, Armin Nassehi
25. Juli 2022