Eigentlich hätte diese Woche noch einmal mit einer kosmischen Perspektive beginnen sollen, mit den vor einer knappen Woche veröffentlichten wunderschönen ersten Aufnahmen des James-Webb-Teleskops, die alle Erwartungen übertroffen haben, und über die man auch eine Woche später noch einiges schreiben könnte.
Dass ich mich jetzt doch lieber etwas anderem widme, hat unter anderem mit einer E-Mail zu tun, die ich vergangene Woche von einem Freund bekommen habe. Wir haben zusammen Physik studiert, und während ich schließlich in die Astrophysik gegangen bin, forscht als Geophysiker im Bereich der Seismologie. Kürzlich war er krank und hatte ein wenig Zeit übrig, die er damit verbrachte, sich die öffentlichen Daten des Deutschen Wetterdienstes anzuschauen. Eigentlich war er an Daten zur Trockenheit interessiert, aber letztendlich landete er bei den Temperaturdaten seit 1960, die von 228 Wetterstationen in Deutschland vorliegen.
Er begann also, die jährlichen Durchschnittstemperaturen im Verlauf der Zeit darzustellen, nahm den Durchschnittswert der Jahre 1960 bis 1990 als Referenzwert, und ermittelte den Anstieg der Werte seitdem. Was er dabei zunächst für die Region Berlin-Brandenburg sah, erschütterte ihn, obwohl das Ergebnis natürlich erwartbar gewesen war: Die Durchschnittstemperatur ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen, und zwar – gemäß seinem Fit – um 2,7 Grad. Er wiederholte die Prozedur für alle Stationen und fand Variationen, in Düsseldorf etwa war die Temperatur “nur” um 1,5 Grad gestiegen. Generell ist der Osten stärker von der Erwärmung betroffen als der Westen, wohl aufgrund des kontinentalen Klimas. Über alle Stationen gemittelt liegt die Temperatur in Deutschland seinen Berechnungen zufolge aktuell 2 Grad über dem Referenzwert bis 1990.
Eine Literaturrecherche ergab für meinen Freund dann auch noch Hinweise darauf, wie die steigenden Temperaturen mit der Trockenheit zusammenhängen: Wenn es insgesamt wärmer ist, ändern sich die Luftströme in der Atmosphäre, es gibt mehr vertikale Bewegung von Luftmassen. Das wiederum ändert die Qualität von Niederschlägen. Es kommt seltener zu anhaltendem, gleichmäßigem Regen, der gründlich in den Boden eindringen kann. Stattdessen herrschen kurze und starke Regenepisoden vor, die von trockenem Boden schlecht aufgenommen werden können. Der Boden trocknet daher aus, selbst wenn die Regenmenge gleich bleibt.
Er sei erschrocken gewesen über sich selbst und seine bisherige Verdrängung, schrieb der Freund, darüber dass ihm gar nicht bewusst gewesen sei, wie tief wir bereits im Klimawandel stecken, während wir noch über das Pariser 1,5-Grad-Ziel diskutieren als wäre das etwas, was wir noch nicht erreicht haben, schrieb er. Und tatsächlich muss ich zugeben, dass es mir ähnlich geht. Der Klimawandel ist etwas, das man meistens ganz gut verdrängen kann — auch wenn uns das immer schwerer fällt angesichts von Katastrophenmeldungen, Wasserknappheit und Rekordhitze.
Das Journal “Science” hatte vor zwei Wochen ein Special zum Klimawandel, in dessen Einleitungsartikel ebenfalls die verbreitete Verdrängung des Problems aufgegriffen wurde. Vor dem Hintergrund des zu beobachtenden politischen Umgangs mit der Klimakrise könne man auf die Idee kommen, dass die Daten, die den menschgemachten Klimawandel belegen, relativ neu seien, steht dort. Aber tatsächlich sei das alles Jahrzehnte alt, die Daten genauso wie die Prognosen und die möglichen Strategien dazu, was man gegen die gefährliche Entwicklung machen könne. Die im Special veröffentlichten Artikel sollten ein Update geben, was Wissenschaftler darüber sagen können, welche Handlungsoptionen uns jetzt noch bleiben.
Das Special vom 24. Juni ist überaus lesenswert. Den augenöffnenden Moment, den mein Freund bei der Auswertung der Daten des Deutschen Wetterdienstes hatte, hatte ich bei der Lektüre eines Artikels, der sich mit dem 1,5-Grad-Ziel befasst, geschrieben von Damon Matthews und Seth Wynes von der kanadischen Concordia University. Die beiden beschreiben, dass wir aktuell bei 1,25 Grad globaler Erwärmung mit einer Änderungsrate von etwa 0,24 Grad pro Dekade stehen — wobei man berücksichtigen muss, dass sich die Meere langsamer erwärmen als die Landflächen und der Wert daher moderater klingt als wir ihn erleben. Das erklärt, warum die von meinem Freund ermittelte Werte deutlich höher liegen. Die beiden Autoren sind in ihrem Artikel überaus deutlich: Wenn wir nicht grundsätzlich etwas ändern, gibt es wenig Hoffnung, dass wir die Erwärmung auf 1,5 Grad einschränken können.
Allein wenn man nur die existierende Energie-Infrastruktur und die 2018 beantragten Kraftwerke betrachtet, reiche deren CO2-Emission, um die 1,5-Grad-Marke zu überschreiten. Emissionen existierender Schiffe, Flugzeuge und anderer fossile Brennstoffe benötigender Infrastruktur sind dort nicht einmal eingerechnet. Diese “infrastrukturelle und technologische Trägheit” ist nach Ansicht der Autoren eines der großen Probleme im Kampf gegen den Klimawandel. Dazu kommt die Trägheit soziopolitischer Systeme: Sich gegen fossile Brennstoffe zu entscheiden ist eine Entscheidung für einen enormen ökonomischen Verlust, weil existierende Ressourcen und Infrastruktur nicht weiter genutzt würden. Solche Entscheidungen widersprechen offensichtlich der systemischen Logik. Eine weitere Trägheit ist die der öffentlichen Meinung, die am Status Quo hängt und Änderungen ablehnt, außerdem gibt es noch die institutionelle Trägheit die selbst dann noch für Langsamkeit in der Umsetzung sorgen würde, wenn der Wille zum entschiedenen Handeln existieren würde. All diese Trägheiten führen Matthews und Wynes zu dem Fazit: “Das gegenwärtige Niveau der globalen Anstrengungen reicht nicht aus, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.”
Auch dieses Fazit ist nicht besonders überraschend. Wir haben uns schon fast daran gewöhnt, dass alles mit einer Mischung aus Verdrängung und Fatalismus hinzunehmen. Aber wenn wir wie in diesen Tagen Temperaturen von bis zu 40 Grad erleben, Videos von gigantischen Feuern am Mittelmeer sehen zusammen mit Bildern ausgedörrten Flussbetten und völlig vertrockneten Landstrichen in Italien – dann kann man doch Angst bekommen.
Montagsblock /180, 18.07.2022
Sibylle Anderl