Ich habe in den letzten Tagen nach langer Zeit wieder in dem Buch „Kritik und Krise“ von Reinhart Koselleck gelesen und komme nicht über diesen Satz hinweg: „Die Verwandlung der Geschichte in einen forensischen Prozeß beschwor die Krise so sehr herauf, als der neue Mensch seine moralische Selbstgarantie unbesehen auf Geschichte und Politik übertragen zu können glaubte, d.h., als er Geschichtsphilosoph geworden war.“ (Ausgabe Suhrkamp 1973, S. 156) Dieser 1959 das erste Mal publizierte Text könnte kaum aktueller sein. Koselleck markiert eine Erfahrung, die mit dem Ende des Absolutismus, also mit dem Ende der Illusion einer feststehenden Welt, in der alles vermeintlich seinen Ort hat, nun die Illusion einer inneren Logik der Geschichte und des Strebens des gesellschaftlichen Geschehens zum Besseren hin herrscht und das immanent Krisenhafte der gesellschaftlichen Entwicklung zugleich sichtbar und unsichtbar macht, in seiner Formulierung: Die Krise verdeckt und verschärft. „In der Verdeckung liegt gerade die Verschärfung und umgekehrt.“ (Ebd.) Wenn ich es richtig verstehe, ist das Krisenhafte der allgegenwärtigen Krisenerfahrung auch darin begründet, dass das nun Forensische des gesellschaftlichen Prozesses nur durch die Illusion auszuhalten ist, dass es sich ganz ähnlich wie die (bürgerliche) Lebensführung hin zum Besseren wenden muss, damit es überhaupt beschreibbar wird.
Sieht man sich die gegenwärtig überlappenden Krisen und Krisenerfahrungen an, so ist immer wieder frappierend, wie sehr deren Wahrnehmung überlagert ist durch Horizonte der Lösbarkeit, der vernünftigen Auflösung, des arbeitsteiligen Ausgleichs und der sich einstellenden Einsicht. Die meisten Sätze funktionieren nur mit der latenten Voraussetzung solcher Möglichkeiten. Vielleicht sind schon sprachlich-lineare Formen der Beschreibung und des Ausdrucks davon abhängig, den Dingen eine innere Logik abzuverlangen, die das Krisenhafte tatsächlich durch Verdeckung verstärkt. Man muss es nicht geschichtsphilosophisch nennen – das wäre nur eine Chiffre für den tiefen Glauben, dass sich am Ende doch alles fügt, und zwar durch konsistentes Handeln, durch kausale Mechanismen, durch angemessene Einsichten und durch kognitive Kontrolle. Nicht zu verdecken ist derzeit aber, wie sehr Prozesse zur Selbstdementierung neigen, wie wenig man sich auf die Geschichten darüber verlassen kann, dass die Mittel greifen, mit denen die Probleme gelöst werden sollen. Deshalb treten gerade apodiktische Urteile und verunsicherte Mehrdeutigkeiten gemeinsam auf die Bühne und signalisieren: Gibt es eigentlich sprachliche und intellektuelle Möglichkeiten, jene Selbstgarantie, von der Koselleck spricht, einzuklammern? Gibt es überhaupt sprachliche Möglichkeiten dafür, die nicht schon am Ende des gesprochenen Satzes eingeholt werden? Können wir aufhören, Geschichtsphilosophen zu sein und Gegenwarten als solche wahrzunehmen: als die Markierungen, in denen zu handeln ist, ohne dass man sich auf Vergangenheiten verlassen kann und ohne schon von Zukünften auszugehen, in denen wir die Krisenlösung fast immer vermuten? Und ist es möglich, diese Fragen nicht als rhetorische Fragen zu stellen?
Und taugt eine solche Kaskade von Fragen für einen Montagsblock? Ausgehen dürfen wir wenigstens davon, dass es auch nächste Woche einen Montagsblock geben wird. Dafür muss man kein Geschichtsphilosoph sein.