Montagsblock /174

Vergangene Woche war ich in Oberbayern zu Gast, um dort auf dem Gelände eines von der Stiftung “Kunst und Natur” wunderschön restaurierten Bauernhofes mit Menschen über die Sonne zu reden. Das ganze war in der Form von Kurzvorträgen angelegt, zwischen denen zwei Spaziergangsepisoden vorgesehen waren, die ich nutzen konnte, um mit den Anwesenden ins Gespräch zu kommen. Dass wir die Sonne als Thema des Abends ausgesucht hatten, war natürlich naheliegend gewesen, denn als unser Heimatstern hat sie die menschliche Kultur – und auch die Kunst –  wie kein anderer Himmelskörper geprägt und beeinflusst. Indem sie für die Jahreszeiten verantwortlich ist, war und ist sie die Grundlage der astronomischen Kalenderbestimmung. Menschen haben daher immer den Verlauf der Sonne beobachtet, die unterschiedliche Dauer der Tage, Bauwerke geschaffen um den Beginn des Frühlings zu markieren und den jährlichen Rhythmus menschlicher Aktivitäten planbar zu machen.

Dass ein Sonnenjahr, Fachterminus: tropisches Jahr, dabei 365 Tagen und knapp 6 Stunden entspricht, sorgte dabei bekanntlich im Laufe der Jahrhunderte für einige Probleme, da die einfache Regel, alle vier Jahre ein Schaltjahr einzuführen, eben nur ungefähr auf die korrekte Jahresdauer führt. So wie auch die Tatsache, dass das tropische Jahr eben nicht genau mit dem Jahr übereinstimmt, das man anhand des Sternenhimmels misst, für einige Verwirrung sorgte – die erst wieder durch Kopernikus mit der taumelnden Kreiselbewegung der Erde, deren Präzession erklärt werden konnte. Die Präzession ist es damit auch, die den Astronomen ein schönes Argument gegen die Astrologie liefert, denn dass die Sterne und die Sonne in ihrer Wirkung auf die Erde mit der Zeit immer weiter voneinander abweichen zeigt, dass die Sternbilder am Himmel nicht mit irgendetwas jahreszeitlich Definiertem wie etwa den Sternzeichen identifiziert werden können.

Dass mich das Wissen, das die Menschen schon sehr früh über die Sonne und ihre Wirkung auf die Erde erworben haben, so fasziniert, liegt natürlich auch an meinem Beruf. Es liegt aber auch daran, dass mir diese Himmelsbeobachtungen selbst lange sehr fremd waren. Als Kind habe ich eher selten in den Himmel geschaut, noch heute habe ich in meiner Heimatregion keine gute Orientierung in Bezug auf die Himmelsrichtungen. Wenn ich mich heute mit historischem astronomischen Wissen beschäftige, ist es mir daher auch immer ein kleines bisschen peinlich, selbst erst so spät diese Perspektive eingenommen zu haben. Denn sie liefern schließlich die direkte Verbindung zwischen unserer irdischen Erfahrungswelt und den unglaublichen und erfahrungsfremden Geschehnissen im weiteren Universum, den explodierenden Sternen, den Schwarzen Löchern und Neutronensternen, den merkwürdigen fremden Galaxien. Auf der Grundlage direkter Beobachtungen mit bloßem Auge war es tatsächlich schon im antiken Griechenland möglich, die Entfernungen und Größen von Sonne und Mond abzuschätzen und ein erstaunlich stimmiges Bild unserer Position im näheren Kosmos zu konstruieren.

Heute wären wir von solchen Überlegungen völlig überfordert. Wir brauchen den Himmel schließlich auch nicht mehr. Er hat seine Bedeutung als Zeitmesser verloren, und wir orientieren uns per Navigations-App, schauen im Anschluss an die Frage nach dem Wetter auf’s Handy statt aus dem Fenster. Immer wieder gestehen mir Menschen im Gespräch, dass sie noch nie die Milchstraße gesehen haben (“Kannst Du beschreiben, wie das aussieht?”). Das ist an sich vielleicht nicht weiter bedenklich. Manchmal frage ich mich allerdings, ob es nicht doch wichtig wäre, den Grundlagen wissenschaftlichen Wissens selbst im Alltag nachzugehen. Nachzuvollziehen also, dass wir die Spuren komplexer und für die meisten Menschen unverständlicher Theorien in unserem direkten Umfeld sehen können. Vielleicht könnte das verhindern, dass offenbar immer mehr Menschen mit wissenschaftlicher Theoriebildung nichts mehr anfangen können und trotzig feststellen, sie würden das alles einfach nicht glauben. Das gilt natürlich nicht nur für die Astrophysik. Die hat aber mit der Flat-Earth-Verschwörungstheorie den absurdesten Auswuchs solcher Wissenschaftsskepsis zu bieten. Macht man das in der Schule? Vielleicht und hoffentlich. Bei mir war das zumindest in Hinsicht auf den Himmel nicht der Fall.

Im Anschluss an meinen Vortragsspaziergang in Oberbayern gab es schließlich ein Konzert mit elektronischer Sonnen- und Planetenmusik. Kurz vor Sonnenuntergang riss die Wolkendecke auf, und unser Heimatstern senkte sich rot glühend und eindrucksvoll hinter den blühenden Wiesen in die Bäume herab. Menschen jeden Alters tanzten dazu selbstverloren in die einbrechende Nacht hinein, und es schien fast undenkbar, dass wir uns normalerweise in unseren Alltagsroutinen der Macht unseres Sterns fast völlig zu entziehen vermögen.

Sibylle Anderl

Montagsblock /174, 06. Jun 2022