In der letzten Botschaft, die der Vater seinem Sohn Kwame und dessen Schwestern hinterließ, steht: “Denkt daran, dass ihr Bürger der Welt seid!” Also nicht nur Bürger der kleinen, lokalen Welt, in der ihr lebt und arbeitet, sondern auch Teil der umfassenden menschlichen Gemeinschaft. Kwame Anthony Appiah, der in London geborene, in Ghana aufgewachsene und heute in den USA lebende Philosoph, trägt dieses Vermächtnis nicht nur im Herzen, sondern hat es auch wie kaum ein Zweiter in seinen Schriften und Büchern ausbuchstabiert. Unter anderem in seinem Klassiker „Der Kosmopolit“, ein Buch, das genau vor 15 Jahren erschienen ist. Kulturelle Vielfalt ist darin der Schlüsselbegriff zu lebenslangem und gegenseitigem Lernen. “Die Menschen sind verschieden, und wir können aus diesen Unterschieden viel lernen. Da so viele menschliche Möglichkeiten es wert sind, erkundet zu werden, erwarten wir nicht und wünschen wir auch nicht, dass alle Menschen oder alle Gesellschaften sich in Richtung einer einzigen Lebensweise entwickeln.”
Muss er auch nicht, denn man kann es drehen und wenden, wie man will. Wir sind mehr Weltbürger denn je. Eingewoben in das Lokale, aber vernetzt mit dem Globalen. Jeder noch so kleine, verbohrte Nationalist wird irgendwann erkennen: Die Distanz zu fremden Kulturen hat sich enorm verringert. Jeder ist nur noch einen Klick vom Anderen entfernt und steht damit fortdauernd am Tellerrand mit Blick auf das Fremde. Daraus, so Appiah, entstehen neue Pflichten. Erstens die universelle Sorge um den Anderen, der näher denn je an meine Lebenswelt herangerückt ist und diese beeinflusst, und zweitens die Achtung vor den kulturellen Unterschieden, um die Globalisierung nicht zum Globalgam verkommen zu lassen. Beides aber bedarf des intensiven Gesprächs miteinander, um einander besser zu verstehen. Ein Gespräch übrigens, das man nicht mit dem Ziel führt, den Anderen zu überzeugen oder ihm die eigene kulturelle Sicht aufzudrängen. Denn oft, sagt Appiah, tauchen vertraute Werte in einer fremden Kultur nur anders arrangiert wieder auf. Die Grundprogrammierung ist aber dieselbe.
Zum Beispiel, was die Familie betrifft. Der 68-jährige Appiah, der Anfang 2022 zum Präsidenten der American Academy of Arts and Letters gewählt worden ist, ist in zwei Gesellschaften aufgewachsen, in denen Familie ganz unterschiedlich definiert wird. In der Akan-Gesellschaft in Ghana, in der er seine Kindheit verbracht hat, hängt die Zugehörigkeit ausschließlich von der Mutter ab. Der Vater ist bedeutungslos. Die Familie, die abusua, ist in der Akan-Kultur matrilinear organisiert. “Ich selbst gehöre zur selben abusua wie die Kinder meiner Schwester, nicht aber wie die Kinder meines Bruders. Und da ich mit meinem Vater nicht über eine Frau verwandt bin, gehört er auch nicht zur selben abusua wie ich.” Das hat Folgen: Die Kinder der Tanten mütterlicherseits sind seine Brüder und Schwestern. Ganz anders natürlich in England, wo Appiah zur Schule ging und studiert hat. Ein Kosmopolit wie er sieht die Sache selbstverständlich gelassen: Einerlei, wie das Familienleben in verschiedenen Kulturen organisiert ist, Hauptsache, es funktioniert und wird als sinnvoll empfunden. Seine Schlussfolgerung: “Es erscheint mir unsinnig, nur einen bestimmten Weg für richtig und alle anderen für falsch zu halten.”
Problematisch wird es immer dann, wenn man als Mitglied der lokalen Kultur fremdartige Werte als primitiv und irrational herabwürdigt. Beispiel Ernährung. Viele Europäer und Amerikaner essen Schweinefleisch, aber kein Katzenfleisch. Es erzeugt Ekel bei ihnen. Was, wie Psychologen wissen, nur kulturell abhängig ist. Die Leitkultur bestimmt, was Ekel hervorruft. Was wiederum umgekehrt gilt: Denn, dass Schweinefleisch in bestimmten Ländern Ekel auslöst, muss hier nicht extra betont werden. Übrigens: Bereits eine fremde Formatierung kann eine solche kulturell geprägte Blockade auslösen. “Schokolade, die man in Form eines Hundehäufchens bringt, essen wir selbst dann nur widerwillig, wenn wir wissen, dass es sich um Schokolade handelt.”
Zurück aber zur gegenseitigen Geringschätzung. Das Problem liegt noch tiefer. Was tun, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen versuchen, zu einer gemeinsamen Bewertung zu gelangen, aber es geht schief? Appiah hat darauf keine Antwort. Wie sollte er auch, es lässt sich nicht im Sinne des Entweder-oder lösen. Was würde ein Deutscher auch einem Fremden antworten wollen, wenn ihm dieser erzählt, dass er sich beschmutzt fühle, wenn er einer gerade menstruierenden Frau die Hand gibt? Und was würde ein strenger Muslim einer deutschen Frau antworten, die ihn zu überzeugen versucht, dass Keuschheit überhaupt keine Rolle spiele und sie mit jedem Sex haben könne, mit dem sie gerade will.
Appiah sieht nur einen Ausweg aus diesem Dilemma: Keine verpflichtenden Werte für alle! Respekt für das, was andere tun! Die These dieses Modus Vivendi untermauert er mit historischen Beispielen. Im mittelalterlichen Spanien unter den Mauren und später im Osmanischen Reich lebten Christen und Juden jahrhundertelang unter muslimischer Herrschaft. Im Holland des 17. Jahrhunderts integrierte sich die sephardisch-jüdische Gemeinde in die christliche Gesellschaft. Allesamt multikulturalistische Experimente, die Raum ließen für gegenseitiges kulturelles Lernen, ohne zu einer verbindlichen, gemeinsamen Bewertung der Dinge zu kommen. Und nie in der Absicht handelten, den Anderen überzeugen zu müssen.
Appiah ist überzeugt davon, dass wir in Harmonie miteinander leben können, ohne uns über grundlegende Werte einigen zu müssen. Das Gespräch sieht er eher “als Metapher für das Bemühen, sich auf die Erfahrungen und Ideen anderer Menschen einzulassen. Und ich betone hier die Rolle der Fantasie, weil solch eine Begegnung, richtig ausgeführt, einen Wert an sich darstellt. Ein Gespräch muss nicht zu einem Konsens über irgendetwas führen und schon gar nicht über Werte. Es genügt, wenn das Gespräch den Menschen hilft, sich aneinander zu gewöhnen.”
Egal, wo man lebt auf dieser Welt. Man kann überall lernen, wie man sich verhalten soll. Auch wenn einem die andere Welt noch so fremd erscheint. Entscheidend ist der Einzelne. Er muss wollen, den Anderen und dessen Unterschiedlichkeit zu achten. Im Austausch mit dem Fremden steigen die Möglichkeiten, das Leben noch bunter und vielfältiger zu gestalten. Appiah nennt diesen Kontakt “Kontamination oder Verunreinigung”. Sie ist das Prinzip aller Kultur. Der Schriftsteller Salman Rushdie bezeichnet es die “Bastardisierung, die Unreinheit, die Mischung, die Verwandlung, die durch neue, unerwartete Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Richtungen, Filmen oder Liedern entsteht”. Melange, Mischmasch, ein bisschen von diesem und ein bisschen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. Nicht nur heute, beschreibt Appiah, sondern bereits seit Jahrtausenden, wie unzählige Beispiele eindrucksvoll belegen. Chinesisches Porzellan, das als Grabbeigabe bei den Suahelis im 15. Jahrhundert verwendet wurde. Der Dudelsack, der aus Ägypten stammt und mit römischen Legionen nach Schottland gekommen ist. Die kulturelle Reinheit hat es offenbar nie gegeben. Und heute schon zweimal nicht. “Urwüchsig-authentische” Kulturen, die sich sauber gegeneinander abgrenzen lassen, sind ein Märchen.
Wie schrieb der Publizist Arno Widmann einmal: “Wer glaubt, er könne sich einrichten in einer Nation, einem Dorf, einem Herrgottswinkel, wird erschreckt feststellen, dass ihn das Fremde überall heimsucht. Er kann sich noch so sehr abkapseln, die Anderen, der Andere wird ihn immer finden.” Es kommt dann nur noch darauf an, ob wirklich ein Gespräch in Gang kommt. Ein Lächeln ist dann oft mehr wert als die Logik der Vernunft.
Literaturtipp: Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. C.H. Beck Verlag, München 2007
Peter Felixberger, Montagsblock /176
20. Juni 2022