“Das ist das erste Bild des supermassereichen Schwarzen Lochs im Herzen unserer Galaxie, Sagittarius A*” — als am Donnerstag um 15.07 Uhr nach einem Zoom ins Zentrum der Milchstraße der historische orange-gelbe Donut auf der Leinwand des Eridanus-Saales der Europäischen Südsternwarte ESO, war das für alle Anwesenden ein überaus emotionaler Moment. Jahrzehntelang hatten Astronomen darauf hingearbeitet und etwas möglich gemacht, was so nah an der Grenze des technisch überhaupt machbaren lag, dass der Erfolg dieses Projektes lange Zeit alles andere als klar erschien. Der Schatten des Schwarzen Lochs vor dem leuchtenden heißen Gas in seiner Umgebung ist so klein und Sagittarius A* so unruhig, dass völlig neue Methoden entwickelt werden mussten, um dieses Bild möglich zu machen. “Das Bild zeigt, was wir erreichen können, wenn wir kooperieren und zusammenarbeiten. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern in diesen aktuellen Zeiten, in denen die Welt sich leider nicht in diese Richtung bewegt”, hatte Xavier Barcons, Generaldirektor der Europäischen Südsternwarte ESO, kurz vorher gesagt. Und tatsächlich eignet sich das Event Horizon Telescope (EHT) in ganz besonderer Weise dafür, an die Einheit der Menschen im Streben nach Erkenntnis zu erinnern. Zum einen befinden sich die verschiedenen an den gezeigten Beobachtungen beteiligten Teleskopen auf der ganzen Erde — Am Südpol, in der chilenischen Atacamawüste, auf Hawaii, in Arizona, in Mexiko und in Spanien — und simulieren ein erdgroßes Riesenteleskop. Zum anderen stammen die über 300 direkt beteiligten Wissenschaftler aus noch weit mehr Ländern, mehr als zwanzig an der Zahl.
Für mich war der Besuch der Pressekonferenz in Garching aber nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen eine besondere Erfahrung. Denn wenn ich nicht vor fünf Jahren als Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angefangen hätte, wäre ich nach Garching, an das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, gegangen, um weiter zur Entstehung von Sternen zu forschen. Dabei hätte ich auch Daten von mindestens einem der am EHT beteiligten Teleskope genutzt. Die Beobachtungsmethode, die dem ersten Bild von Sagittarius A* zugrunde liegt, hatte ich in etwas einfacherer Form selbst viele Jahre angewendet. Viele meiner ehemaligen Kollegen aus der Radioastronomie waren bei der Pressekonferenz zugegen, einige der Studenten, mit denen ich während der Zeit meiner Doktorarbeit gemeinsam in der Graduiertenschule der Max-Planck-Gesellschaft war, sind mittlerweile etablierte Forscher und waren an dem Bild des Schwarzen Lochs beteiligt.
Insofern war mein Aufenthalt in Garching gewissermaßen auch eine Art Reise in eine mögliche Parallel-Gegenwart, in der ich mich heute vielleicht befinden würde, hätte ich damals eine andere Entscheidung getroffen. Wenn ich die wissenschaftlichen Studien lese und zu verstehen versuche, wie die Wissenschaftler es geschafft haben, die Methoden der Interferometrie auf das zeitlich variable Zielobjekt Sagittarius A* anzuwenden, ist da schon auch so etwas wie eine Sehnsucht, sich hauptberuflich in beliebiger Detailtiefe mit diesen Dingen zu beschäftigen, bis tief in die Nächte bestimmten Spuren in den Daten nachzuspüren, besessen von einer neuen Idee oder von der Intuition, eine andere Herangehensweise könnte etwas vorher Unsichtbares sichtbar machen.
Dass dieser Anflug von Wehmut aber letztendlich doch keine Chance hatte, den Sprung in die Real-Gegenwart zu schaffen, verdanke ich einem Gespräch mit einem früheren Kollegen, das mich wieder an all das erinnerte, was damals ein Grund gewesen war, dem akademischen Betrieb den Rücken zu kehren. Der Kollege hatte in Amerika studiert und dann in verschiedenen europäischen Ländern gearbeitet — ein Nomadenleben, wie es als “Nachwuchs”-Astronom üblich ist. Mit seinen Projekten war er immer außergewöhnlich erfolgreich gewesen, hatte Publikationen in den renommiertesten Fachjournalen (auf die ich damals neidischer war als ich mir eingestehen wollte), hatte internationale Konferenzen organisierst und war in der Lehre aktiv.
Es gab im Grunde nichts, was er in seinem Lebenslauf noch besser hätte machen können. Seine Frau hatte ihn auf diesem Weg immer begleitet, mittlerweile haben beide zwei Kinder, die zur Schule und in die Kita gehen. Als ich ihn fragte, ob wir einen Kaffee trinken wollen, war ich fest davon ausgegangen, dass er mittlerweile eine unbefristete Stelle haben müsste. Umso überraschter war ich, zu hören, dass er (mal wieder) vor dem Ende eines befristeten Vertrags steht — diesmal ohne die Möglichkeit einer Verlängerung, da nun bei ihm wirklich und endgültig das Wissenschaftszeitvertragsgesetz greift. Weil er und seine Frau gerade dabei sind, die Deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, können sie vor Ende dieses Prozesses nicht einmal ins Ausland gehen. Es ist überraschend, dass die Forschung es sich leisten kann, so hoch ausgebildete, motivierte Fachkräfte in ihren grundlegendsten Bedürfnissen so zu ignorieren und dann entsprechend auch zu verlieren. Astrophysiker müssen zumindest keine Existenzängste haben, als “data scientists” sind sie in praktisch allen Firmen gefragt — wenngleich die Auswertung von Kundendaten oder die Optimierung von Unternehmensprozessen sicherlich nicht das ist, wofür man viele Jahre hart studiert und gearbeitet hat. Die Fachexpertise, die bei so einem Wechsel unwiederbringlich verloren geht, ist ein Verlust für den Forschungsbetrieb, dessen (auch finanzielle) Konsequenzen meines Wissens erstaunlich wenig thematisiert werden. Diese Probleme sind nicht neu und allen bekannt. Der Kollege ist natürlich nicht das einzige Beispiel für das Problem. Niemand weiß offenbar so recht, wie man nachhaltig Verbesserungen herbeiführen kann. Ich bin froh, dass es mich nicht mehr betrifft, und gleichzeitig traurig, dass diese Tatsache doch immer wieder meine Liebe zur Forschung trübt. Es ist unglaublich, welche atemberaubenden Fortschritte sich gerade in der Astrophysik abspielen. Ich würde allerdings auch gerne einmal an den Unis und in den Forschungsinstituten deutliche Fortschritte hinsichtlich der Situation “junger” Wissenschaftler sehen.
Sibylle Anderl, Montagsblock /171
16. Mai 2022