Pop regiert die digitale Öffentlichkeit. Befindlichkeit und Pose, Selbstdarstellung und Lebenswelt, Bekenntnis und Identifikation haben dort das Zepter übernommen. Platt schlägt Komplex! Und selbst das Politische wird in diese Richtung domestiziert. Es mutiert vielerorts zum Popevent, um das herum große Spekulationsblasen drapiert werden. Wer war noch nicht in Kiew? Nichts wie hin. Die Bedeutung der politischen Performance wird auf ihren kurzfristig öffentlichen Prestigegewinn reduziert. Das wiederum vereinfacht die Zugänge für eindimensionale Menschen, denen jetzt endlich der komplexe Diskurs erspart bleibt. Der Politiker wiederum, der sich früher seine Argumente zusätzlich über intellektuelle Pfade erschlossen und als Trägergruppe kommuniziert hat, ist ein fast zahnloser Tiger geworden, der sich der Geschmacks- und Moralduselei angeschlossen hat. Der Zauber der Politik verglüht mehr und mehr in Selbstdarstellungsposen. Baerbock und der Tarnhelm, Söder als Foodblogger, Lindner als rhetorisch langsam aufquellende Dampfnudel.
Selbst Politiker haben sich im Digimedia-Pop assimiliert. Und sie platzieren ihre tägliche Selbstdarstellung in den medialen Arenen sehr viel geschickter als früher. Unterstützt von kollaborativen Redakteuren und Autoren, die remixen, recyceln, repowern und sozialmedial rebranden, bis Auflagen und Werbeeinnahmen wieder stimmen sowie eigene Macht- und Bedeutungssehnsüchte gestillt sind. Einziger Wermutstropfen: Authentizität und intellektuelle Selbstentfaltung geraten dabei unter die Räder. Alles passiert gleichzeitig und nicht. Entwertung folgt Aufwertung. Und repeat. Da wird der Baum der Aufklärung schnell kahl.
Pop regiert die Drehbücher des digitalen Öffentlichen. Jeder kann eine Rolle besetzen, die das öffentliche Schauspiel offeriert. Wenn er es nicht tut, kommt ein anderer des Weges. Es geht öffentlich immer ums Ganze und ums Nichts. Die Inhalte werden ständig belebt, Interaktion und Assoziation vervielfältigen sich, Remix und Refill von Content sind unbegrenzt. Die Einbahnstraßen-Senderwelt von früher ist vom Aussterben bedroht. Es regieren digitale Suchmaschinen und Social Media. Sie blähen die überbordende Fülle auf und sind längst die alles beherrschende und kontrollierende Medienarchitektur geworden. Gefüttert und genährt durch ständige Interaktion und Assoziation. Wissen, Meinung, Tagesaktualität, Gedankensplitter und Theorie verbreien sich permanent und bringen vor allem eines nicht mehr zustande: ein vorläufiges Ende. Denn vieles, was wir im Digi-Öffentlichen denken und diskutieren, ist Anfang und Ende zugleich. Dieses Paradoxon löst weiteren Aktionismus aus. Bullshit-Bingo auf den Landungsbrücken der Meinungsbildung. Anne Will ist stronger than Anne Skill!
Kein Wunder, dass Elon Musk, Jeff Bezos & Co. Teile des Starensembles geworden sind. Die großen Breimaker fluten die freie Welt unter dem Deckmäntelchen der freien Meinung. Rockin in a free world! Alle dürfen mitsingen, mitreden, mitschwadronieren, mitkeifen. Doch wenn es alle dürfen, geraten Authentizität, Originalität und Substanz vielerorts unter die Räder. Alles passiert gleichzeitig, gleichwertig und wiederum nicht. In Social Media und digitalen Suchmaschinen wird nicht mehr nach intellektueller Tiefe gefragt, sondern nach dem beliebigen »quick and dirty«. Es braucht schnell wirkende Content- und Entertainmentdrogen. Nur so entspannt sich der Datenbrei und blubbert als Meinungsgeysir vor sich hin. Ohne Unterlass. Im Hintergrund dramatisieren, skandalisieren und bewerten selbst ernannte Co-Autoren das Weltgeschehen.
Good old Strukturwandel der Öffentlichkeit. Es war Jürgen Habermas, der dies als erster vor der Digitalisierung erkannt hat, dass die Öffentlichkeit nicht mehr ihrem ursprünglichen Potential folgt und im Sinne öffentlichen Räsonnements keine Kontrollfunktion mehr erfüllt. Und erst letztes Jahr hat der Meisterdenker beklagt, dass das Versprechen öffentlicher Verständigung von den „wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt“ werde. Und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda hat in einer Rede jüngst darauf hingewiesen, dass die Ökonomie digitaler Medien den demokratischen Diskurs fundamental verenge. „Orientierung wird zur Mangelware. Maßstäbe verrutschen. Statt Empathie erleben wir Empörung, statt Wertschätzung Wut“. Das Gespräch wird Geschrei, sagt Brosda.
Besonders laut schreien Helden, Integrationsfiguren und Säulenheilige. Die Selbstdarstellung in der digitalen Popwelt der Politik fördert deshalb einen altbekannten Cäsarismus zutage. Es wird auf das »große Individuum« gesetzt. In den USA nennt man so jemand »Great Man«. Jemand, der über allem steht, vor allem über Not und Chaos. Dann funktioniert der Great Man besonders gut. Denn gesellschaftliche Krisen sind der ideale Nährboden für diesen Typus, vor allem genau dann, »wenn die Not und Ratlosigkeit so groß sind, dass die nächstbeste Person, die entschlossen die Chance nutzt, zum Kristallisationskern von Hoffnungen wird und Gefolgschaft findet«. Interessanterweise ist es aber nicht nur die Ausstrahlung der Führungsperson, die ihren Stern noch heller strahlen lässt. Nein, Not und Chaos suchen vielmehr nach einem menschlichen Gesicht als stellvertretendes Symbol. Will sagen: Charismatische Führung entsteht nicht aus krisenhaften Situationen heraus. Vielmehr wird jemand stellvertretend als krisenlösende Führungsperson definiert und konfiguriert.
Kein Wunder, dass im anschwellenden Kiew-Politikertourismus alle um den Schnappschuss mit Selensky und den Klitschkos balzen. Nur Olaf Scholz nicht. Kein Cäsar, kein Great Man, kein Pop. Aus der Zeit gefallen? Wo will der denn hin? Pop verlangt Anpassung. Sonst droht die einsame Insel.
Montagsblock /170, Peter Felixberger
09. Mai 2022