Montagsblock /172

Christian Drosten hat in seinem letzten NDR-Podcast, den er seit Beginn der Pandemie zeitweise gemeinsam mit Sandra Ciesek betrieben hat, beklagt, dass es in der Wissenschaftskommunikation während der Pandemie zu viel Kakophonie gegeben habe und dass es womöglich sinnvoll sein könnte, öffentliche wissenschaftliche Sprecher mit einer Art Mandat auszustatten. Das ist natürlich nicht praktikabel, denn wer sollte das Mandat erteilen? Die Wissenschaft selbst sicher nicht, denn dafür bräuchte es innerwissenschaftliche Instanzen, die aus dem Wissenschaftssystem eine Organisationssystem mit Presseabteilug machen müssten. Das ist glücklicherweise nicht möglich. Und dass ein solches Mandat politisch erteilt werden könnte, ist schlechterdings unmöglich, denn es sind ja in Zeiten des öffentlichen Gebrauchs von Wissenschaft gerade politische Akteure, die Adressaten von wissenschaftlichem Wissen sind – würden sie die Kriterien für die Mandatierung festlegen, müssten sie wissenschaftlich bereits so gut beraten sein, dass sie keine Beratung mehr brauchen. Und Wissenschaftsorganisationen wie Akademien oder Fachgesellschaften scheinen dazu auch nicht in der Lage zu sein.

Aber was Drosten hier mit einigem Recht anspricht, weist auf ein fast unlösbares Problem hin. Es gibt in funktional differenzierten Gesellschaften eine merkwürdige Erfahrung, die sich in verschiedenen Funktionssystemen wiederholt: ein Gap nämlich zwischen der Erwartung an das Funktionssystem und seiner Funktion. Wir erwarten vom ökonomischen System die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, dabei ist die Funktion lediglich der Ausgleich von Knappheit. Wir erwarten vom Rechtssystem Gerechtigkeit, dabei ist die Funktion nur die Stabilisierung normativer Erwartungen. Was man bekommt, sind kompatible Entscheidungslagen und nicht eine höhere Gerechtigkeit. Vom politischen System erwartet man die Gestaltung der Welt und die Förderung des Gemeinwohls, man bekommt aber nur kollektiv bindende Entscheidungen.

Ähnliches gilt auch für die Wissenschaft. Die Erwartung an Wissenschaft sind eindeutige Aussagen, eindeutiges Wissen, also gewissermaßen Aussagen über Sachverhalte, die nicht einfach Meinungen sind, sondern Aussagen mit mehr oder weniger objektivierbaren Gründen. Diese Erwartung freilich ist nicht immer zu erfüllen. Wissenschaftliche Aussagen kommen zwar performativ als objektivierbare konstative Sätze daher, aber ihre Praxis ist von komplexen Voraussetzungen abhängig: Die Aussagen sind fallibel, sie stehen unter dem Verdikt der Verfügbarkeit von Daten, Informationen und der Erforschbarkeit des Gegenstandes. Zwischen die Welt und ihre wissenschaftliche Durchdringung sind Theorien, Methoden, Konventionen und nicht zuletzt Beobachtungsapparate geschaltet – und jede wissenschaftliche Aussage muss sich wissenschaftlicher Kritik stellen. Interessanterweise wird die Eindeutigkeit einer Aussage in einem Review-Verfahren bekräftigt, nicht durch den wissenschaftlichen Prozess allein, also wenn man so will, durch ein Mehraugen-Prinzip, das durchaus einer Mandatierung ähnelt. Zur Wissenschaftsfreiheit gehört, dass alle wissenschaftlichen Aussagen kritisierbar sind und schon das die Eindeutigkeitserwartung von außen in Frage stellt. All das ist üblicherweise kein Problem, wenn der Prozess der Wissensgenerierung selbst für „Laien“ unsichtbar bleibt, also innerhalb wissenschaftlicher Organisationen, Verfahren, Forschungs- und Publikationsroutinen bleibt.

Das hat die Pandemie, die ja in vielerlei Hinsicht ein Sichtbarkeitsgenerator war, aufgehoben – und es waren besonders Personen wie Christian Drosten, die als Akteure selbst an der Schnittstelle zwischen Außen- und Innenerwartungen an die wissenschaftliche Praxis fungierten. In der Person (nicht nur) dieses Wissenschaftlers brach sich gewissermaßen die merkwürdige Erwartung von außen und die wissenschaftliche, fallible, sich verändernde, unter dem Vorbehalt der Geltung stehende Expertise. Dass hier dann ein Wissenschaftler gewissermaßen wissenschafts- oder forschungsexterne Mechanismen in Anspruch nehmen möchte, um die Schnittstelle zwischen Innen und Außen zu bearbeiten, hat fast eine ironische Komponente.

Die kritischen, ja genervten Sätze des Berliner Virologen wurden von interessierter einschlägiger Seite gerne und süffisant aufgenommen – man hat ihm ein autokratisches Wissenschaftsverständnis attestiert (so René Schlott in der FAZ vom 11.05.2022) oder mangelndes Verständnis von „Medien- und Demokratietheorie“ (ein Medienprofessor aus Dortmund im Deutschlandfunk am 30.03.2022, auch zitiert in besagtem FAZ-Artikel). Worauf hier freilich rekurriert wird, ist nicht der Gap zwischen Erwartungen an und Praktiken des Wissenschaftssystems, sondern eine Form, die gerade während der Pandemie eine besondere Karriere gemacht hat: die Behauptung mangelnder Meinungsfreiheit.

Meinungsfreiheit ist ein merkwürdiger Terminus. Meinungsfreiheit wurde historisch vor allem als Religionsfreiheit, also als Toleranz gegenüber religiösen Meinungen oder Überzeugungen diskutiert oder aber auch als die Freiheit der privaten Lebensäußerungen, die sich weder um politische Gefolgschaft noch um wissenschaftliche Wahrheit kümmern mussten. Es war das Korrelat einer Gesellschaft, die das Private dem Öffentlichen und das Individuelle dem Allgemeinen gegenüberzustellen begann. Meinungsfreiheit war gewissermaßen eine Form des möglichen Kontrollverlusts gegenüber allen Wesensäußerungen der Menschen, damit auch eine Entkoppelung unterschiedlicher Erwartungen in der Gesellschaft. Man kann dann ein guter Staatsbürger unabhängig von der Konfession oder unabhängig von ästhetischen Urteilen sein.

Es ist kein Zufall, dass eher von Meinungs- als von Wissens- oder Wahrheitsfreiheit die Rede ist. Die berühmte Differenzierung von Kants drei Formen des Fürwahrhaltens bringt dies gut auf den Begriff. Während Wissen subjektiv und objektiv angemessen sei und der Glaube wenigstens subjektiv angemessen, gilt für die Meinung keine der Bedingungen. Es ist gewissermaßen die folgenloseste Form des Fürwahrhaltens, auch die anspruchsloseste. Meinungsfreiheit wäre also gewissermaßen die Freiheit der Variation vergleichsweise unbedeutender, eher privater, eher individueller Lebensäußerungen, noch kontingenter als der Glaube. Dennoch ist Meinungsfreiheit ein wertvolles Gut. Die Meinungsfreiheit ist ein geschütztes Grundrecht, im deutschen Grundgesetz geregelt in Artikel 5, der die Meinungsäußerung schützt, Zensur ausschließt, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert und hohe Hürden für die Einschränkung von Meinungsäußerungen formuliert.

Drostens Kritik freilich richtet sich weniger an die Wissenschaftsfreiheit, sondern gegen etwas anderes – und dies macht den Topos der Meinungsfreiheit weniger trivial, als es erscheint. Dass Meinungsäußerungen völlig frei sind, bedeutet nicht, dass sie zugleich, etwa im Bereich wissenschaftlicher Geltungsansprüche, auch wissenschaftliche Geltung beanspruchen können. Dass die Wissenschaft frei ist, bedeutet womöglich aus rechtlicher Perspektive, dass man auch behaupten kann, die Erde sei eine Scheibe oder die Corona-Erkrankung nur eine leichte Grippe. An solchen Aussagen soll und darf niemand gehindert werden. Nur verbürgt die Meinungsfreiheit oder Meinungsäußerungsfreiheit nicht im geringsten, dass man dafür wissenschaftliche Geltung in Anspruch nehmen kann, denn hier geht es je gerade darum, wissenschaftliche Aussagen danach zu qualifizieren, ob sie wahr sind oder nicht – wahr nach dem Stand und den Konventionen, nach den Verfahren und den Erwartbarkeiten wissenschaftlicher Disziplinen.

Hier treffen Symmetrieerwartungen auf unheilbar asymmetrische Verhältnisse. Auf dem Gebiete der Meinungen herrscht Symmetrie, auf dem Gebiet des Wissens nicht. Und es sind exakt diese beiden Konstellationen, die in dem genervten Satz von Christian Drosten einen ästhetischen Ausdruck finden.

Die liberale Vorstellung der Meinungsfreiheit war vor allem ein Abwehrrecht gegen Gängelung, vor allem gegen die staatliche Definition von, heute würde man sagen: Meinungskorridoren. In den USA ist diese Freiheit des Wortes noch stärker ausgeprägt als in Europa, was tatsächlich mit einer erheblich staatskritischeren Tradition des Liberalismus zu tun hatte. Die Meinungsfreiheit als liberales Grundrecht – in Autokratien heftig bekämpft, im Marxismus-Leninismus sogar explizit als Ausdruck falschen Bewusstseins gebrandmarkt – rechnete immer schon mit einer Asymmetrieerwartung und -praxis. Davon scheint der gegenwärtige Kommunikationshaushalt weit entfernt zu sein. Wenn die Pandemie auf diesem Gebiet etwas verdeutlicht hat, dann ist es die völlige Symmetrieerwartung von Aussagen. Es ist vor allem die Praxis sozialer Medien, deren Verbreitungsform und -geschwindigkeit und deren Dynamik den Unterschied etwa zwischen wissenschaftlicher Geltung und der Geltung der freien Meinungsäußerung praktisch geradezu einebnet. Fake News, halbseidene Formen des Akademischen, Rollendiffusionen von Personen mit akademischen Titeln in außerakademischen Gebieten – all diese Inszenierungsformen haben ein Publikum daran gewöhnt, dass zwischen Aussagen und Aussagentypen keinerlei Asymmetrien mehr zu gelten scheinen oder gelten dürfen. In Medien, in denen alles von allen sagbar ist, ist alles von allen sagbar und erzeugt mit entsprechenden Habitus für den Anspruch gehört zu werden. Die klassische Meinungsfreiheit ist für die unterdrückten Subalternen gemacht, nun wird alles zur möglichen Wahrheit aufgewertet. Das spricht nicht gegen die Meinungsfreiheit, sondern beschreibt nur, wie die vorherige Form der Verknappung von möglichen sagbaren Sätzen (Herrschaft, Ungerechtigkeit usw.) kein funktionales Äquivalent gefunden hat.

Die daraus entstandene Kakophonie hat dann auch den wissenschaftlichen Streit um wissenschaftliche Geltung innerhalb der Institutionen des Wissenschaftssystem, aber vor allem die Präsentation von Wissenschaft in der Öffentlichkeit infiziert. Die symmetrische Außenbeobachtung des gleich Gültigen hat all die false balance Probleme erzeugt und nicht zuletzt die Ideologie befeuert, dass tatsächlich jeder und jede zu hören seien.

Die Grundintuition ist die, dass schon der Hinweis darauf, dass es sich als Wissenschaftler nicht lohnt, mit bestimmten Positionen zu diskutieren, auch noch öffentlich, als Bestätigung für fehlende Meinungsfreiheit aufgefasst wird – als gehe es in der Wissenschaft um bloße Meinungen.

Dies Letztere ist kaum verständlich zu machen. Es sind wissenschaftsinterne Kriterien, die darüber entscheiden, was wissenschaftliche Geltung beanspruchen darf und was nicht. Was nicht passt und dann tatsächlich auf die Asymmetrie zwischen Wahrheit und Unwahrheit oder wenigstens zwischen Wahrheitsfähigkeit und ihr Gegenteil pocht, gerät unter Generalverdacht. Man kann sich dann gar nicht mehr vorstellen, dass es wissenschaftliche Gründe geben kann, sondern vermutet einen pharmakologisch-industriell-autoritären Komplex – also eine illegitime Form der Asymmetrie. In dieser Atmosphäre wird dann auch der innerwissenschaftliche Diskurs entsprechend infiziert.

Drostens genervte Bemerkung musste deshalb damit rechnen, dass sie für autokratisch gehalten wird, dass sie als ein weiteres Beispiel für die Einschränkung von Meinungskorridoren gesehen wird und dass sie natürlich dunklen Interessen oder wenigstens der persönlichen Eitelkeit dient. Dass es bessere Argumente als schlechte gibt, dass es wissenschafts- und vor allem disziplininterne Kriterien und Bedingungen für Geltung gibt, auch Klügere und Dümmere (ja!) und dass die Wahrheit ein eher knappes Gut ist – dafür gibt es überhaupt keinen Sensus. Mit dem Instrument der Meinungsfreiheit jedenfalls kommt man dagegen nicht an. Freilich auch nicht mit ihrem Gegenteil – schon weil es da, wo es um etwas geht, gar nicht um Meinungen geht.

Montagsblock /172, Armin Nassehi

23.05.2022