Heute vor einer Woche hat an der LMU München das Sommersemester wieder begonnen – das erste vollständig in Präsenz organisierte Semester seit dem Wintersemester 2019/20. Ich habe im Sommersemester im Rahmen meiner Lehrverpflichtung für den Bachelor-Studiengang Soziologie (Hauptfach und Nebenfach für die verschiedensten Studiengänge) unter anderem eine Vorlesung zu halten, die in soziologische Theorien einführt – von der Vorgeschichte der Soziologie über die frühe Soziologie von Durkheim und Weber bis hin zu zeitgenössischen Theorien wie Rational Choice-, System-, Praxis- und Akteur-Netzwerktheorien. Ich halte diese Vorlesung für das zweite Studiensemester, mit wenigen Unterbrechungen, in München seit 1997 im AudiMax der Universität. Die Vorlesung ist meistens gut besucht, immerhin ist es eine Pflichtvorlesung. Am vergangenen Montag waren etwas mehr als 600 junge Leute anwesend – und wenn ich sie in der ersten Sitzung nicht zu sehr abgeschreckt habe, wird das am heutigen Montag auch so sein. Wir haben in der ersten Sitzung ein paar Zitate von Hobbes, Rousseau, Hegel und Marx gelesen und gemeinsam interpretiert, um herauszubekommen, was das Bezugsproblem solchen Denkens ist. Welche Probleme löst Hobbes damit, dass er einen ziemlich ungemütlichen Naturzustand imaginiert, welche Rousseau mit seinem Gesellschaftsvertrag, welche Hegel mit seiner Kritik an der „Atomistik“ – was ausnahmsweise nichts mit militärischen Fragen zu tun hat; und warum Marx in dieser Reihe der Vorgeschichte der erste ist, der schon soziologisch denkt – und was das heißt. Es geht hier übrigens viel weniger um die allzu bekannten Inhalte, sondern mehr um die Frage, wie man methodisch kontrolliert liest, wie man rekonstruiert, dass Texte die Probleme lösen, die sie selbst finden und die sie sich zumuten und dass es nicht nur darauf ankommt, was da steht, sondern wie es entfaltet wird.
Warum lohnt es sich, das zu erzählen? Es geht hier nicht um die Inhalte. Man könnte solch eine Vorlesung auch anders aufbauen und beginnen. Im Master-Studiengang halte ich eine ganz andere Theorievorlesung, weniger an Köpfen als an Theoriebildungsproblemen orientiert. Aber auch darum geht’s nicht. Es geht um die Situation im Hörsaal. Während der Pandemie habe ich die beiden großen Vorlesungen für den Bachelor im Winter- und Sommersemester aufgenommen und die Dateien zum Download bereitgestellt. Das hat ziemlich gut funktioniert – war aber nur ein Derivat, nur ein Ersatz. Meine Erfahrung mit den aufgenommenen Vorlesungen (damit die Dateigrößen handhabbar blieben, war das ohne Video, sondern nur Audio mit Power-Point-Unterstützung) waren positiv, und auch die Studierenden waren damit ganz zufrieden. Es hatte seine Vorteile. Man kann solche Dateien immer wieder abspielen, verwenden, wann man will, auch langsamer oder schneller abspielen usw. die Rückmeldungen waren recht positiv.
Und auch ich selbst war erstaunlich zufrieden damit – was natürlich als Selbstrezension eine merkwürdige Auskunft ist. Aber so ist es nicht gemeint. Gemeint ist eher, dass ich die merkwürdige Erfahrung gemacht habe, dass ich nie in meiner inzwischen jahrzehntelangen Erfahrung mit Vorlesungen (die ich unglaublich gerne halte) so präzise und genaue Vorlesungen gehalten habe wie während der Pandemie. Sie waren textlich präziser, konsistenter argumentiert, sprachlich klarer – und wenn man sich die Produktionsbedingungen ansieht, ist das auch erstaunlich. Ich saß immer sonntags abends zu Hause vor meinem Rechner und habe die PowerPoint-Präsentation besprochen, gewissermaßen vertont, und das keineswegs mit einem Manuskript, sondern genauso frei wie im Hörsaal, auch mit den präsentierten Zutaten, also genauso. Und die Situation zu Hause war wirklich merkwürdig, fast grotesk. Man sitzt alleine in einem abendlich verdunkelten Raum, spricht in ein Mikrophon ohne Gegenüber und gerät letztlich auf dieselbe Betriebstemperatur wie im Hörsaal, Gestikulieren und Modulation eingeschlossen. Wirklich strange. Und doch hat sich das auf die Präzision der Rede ausgewirkt.
Ich hatte letzte Woche all das überhaupt gar nicht im Hinterkopf, als die erste Präsenzvorlesung begann – aber es kam mir tatsächlich während der Sitzung in den Sinn. Ich hätte die Vorlesungsstunde eigentlich aufnehmen sollen, um zu vergleichen. Denn es war alles inhaltlich Dasselbe, aber von der Form her ganz anders. Garantiert nicht so präzise. Unterbrochen dadurch, dass ich Studierende einbezogen habe, die zunächst Interpretationsversuche der Texte gemacht haben, die nachgefragt haben, die aber auch in Phasen, in denen hauptsächlich ich gesprochen habe, eben nicht untätig waren, sondern zugehört haben.
Ich war trotz aller Erfahrung wirklich perplex angesichts der Situation. Wir wissen natürlich theoretisch ganz genau, wie sich Inhalte und performative Gestalt durch Medienwechsel verändern. Ein gesprochenes Wort funktioniert anders als ein geschriebenes, ein auf Bütten geschriebener Brief mag den gleichen Inhalt haben wie eine E-Mail, mutet aber nicht nur anders an, sondern erfährt schon durch seine Zeitstruktur einen Bedeutungswandel – der Beispiele wären viele.
Vielleicht wird nun, nach der Pandemie, deutlich, wie wenig universitäre (und wohl auch schulische oder sonstige) Lehre auf Interaktion unter Anwesenden verzichten kann. Anwesenheit erzeugt andere Anschlussformen. Selbst wenn ich meine Vorlesung ganz ohne Unterbrechung, ganz ohne Beteiligung der Studierenden, ganz ohne die Weitergabe des Mikrophons halten würde, also traditionell frontal – selbst dann hätte es noch einen Unterschied gemacht, ob ich in Gesichter sehe oder nicht. Schon der in Echtzeit sichtbare Respons von Studierenden, schon der sich ändernde Level von Raum- und Körpergeräuschen, schon Blicke von einzelnen Personen oder kleine Mikrostörungen wie Schwätzen oder Husten, schon sich öffnende Türen sind nicht nur eine Herausforderung an mein eigenes Aufmerksamkeitsmanagement, sondern wirken sich auch auf die Art und Weise aus, wie ich die Vorlesung halte – bis in die Inhalte hinein.
Ich habe einmal vor vielen Jahren einen zugegebenermaßen merkwürdigen Selbsttest gemacht. Ich habe das AudiMax der LMU an einem Wochenende aufgesucht und ich habe versucht, eine Vorlesung zu halten – zweimal ist es mir nicht gelungen, länger als etwa 5 Minuten einen angemessenen Vortrag zu halten. Selbst wenn nur einer redet – Kommunikation ist davon abhängig, wie daran angeschlossen wird. Sogar einseitige Kommunikation stellt sich selbst an der eigenen Anschlussfähigkeit scharf und reagiert in Echtzeit auf wahrgenommene, antizipierte Reaktionen.
Die merkwürdige Unterbrechung dieser Selbstverständlichkeit durch die Pandemie war insofern recht lehrreich, denn die Lehrkommunikation per besprochener PowerPoint-Datei ist eine restringierte Form, die genau diese Reaktionsmöglichkeiten nicht hat – aber wie passt das mit der Erfahrung zusammen, dass diese Form der Vorlesung präziser, genauer, filigraner war als die Präsenzvorlesung?
Zum einen lässt sich daraus lernen, wie voraussetzungsreich die Pandemie-Situation war, denn vor dem heimischen Computer ist mir gelungen, was im leeren Hörsaal noch unmöglich war. Zum anderen aber lässt sich daraus lernen, dass die Lehre und das Lernen gerade nicht von der Präzision lebt und nicht an den Präzisionskriterien der Schriftlichkeit hängt, sondern gerade an den Abweichungsmöglichkeiten der Interaktion. Nachdem Viele am Anfang der Pandemie Sorge hatten, dass die Pandemie uns beibringen könnte, dass so etwas wie präsente Lehre nicht mehr nötig sein werde und sich dadurch die Hochschullehre radikal verändern werde und Personal verzichtbar würde, scheint es sich umgekehrt zu verhalten. Die Lehre in der Pandemie war im Großen und Ganzen durchaus gelungen. Am gelungensten daran war aber, dass sie die Wertigkeit und die Bedeutung der Interaktion als entscheidendes Lehrmedium sehr deutlich bestätigt hat. Das Ergebnis: Wir können auch anders. Aber wir sollten nicht unbedingt.
Armin Nassehi, Montagsblock /169
02.Mai 2022