Montagsblock /168

„Die Welt ist heute geplagt von der Verwirrung widersprüchlicher Propaganda, ein Babel der Stimmen in vielen Zungen Vorwürfe formulierend, Gegenangriffe, Behauptungen und Widersprüche, die kontinuierlich auf uns einstürmen.“ Nie zuvor habe es so viel Propaganda gegeben und niemals so wirkmächtige für das Leben aller Bürger, nie zuvor auch so professionell umgesetzt vor dem Hintergrund neu eingeführter Medien. Diese Beschreibung stammt aus dem Jahr 1939, verfasst vom New Yorker “Institute for Propaganda Analysis” (IPA). Das Institut war 1937 vom Journalist Clyde R. Miller gegründet und von dem Geschäftsmann Edward Filene finanziert worden. Sein Ziel: Die Demokratie vor schädlichen Einflüssen schützen, indem die Bevölkerung befähigt werden sollte, Propaganda und deren Techniken selbstständig zu erkennen. „Sobald wir die Tricks der Propagandisten verstanden haben, ist es weniger wahrscheinlich, dass wir ihnen auf den Leim gehen, dass wir so bereitwillig ihre Vorschriften und sogar ihre ‚Fakten‘ als vertrauenswürdig annehmen”, heißt es 1939 im Vorwort der Schrift “The Fine Art of Propaganda” des Instituts. Aufklärung der Bevölkerung sei daher der zu gehende Weg — während ein Verbot der Propaganda den Prinzipien der Demokratie widerspreche und der Erfolg eines Einsatzes gezielter Gegenpropaganda zweifelhaft sei.

Das Buch war eine aus einer ganzen Reihe von Publikationen. Die Ergebnisse der Recherche des Instituts wurden in monatlichen Bulletins und größeren Schriften veröffentlicht. Auf der einen Seite wurden darin typische Propagandatechniken an Beispielen identifiziert: Etwa die Verbindung bestimmter Ideen mit negativ konnotierten Begriffen, der Bezug auf vermeintliche Autoritäten, die Anführung von Identifikationspersonen, die selektive Zusammenstellung von Fakten, der Bezug auf die „einfachen Leute“ oder die Behauptung, bestimmte Einstellungen würden von allen geteilt. Auf der anderen Seite stellte das Institut ein ABC der Propaganda-Analyse zusammen, das unter anderem einen Leitfaden dafür liefern sollte, eigene Vorurteile, Emotionen oder ganz allgemein die „eigene Propaganda“ kritisch zu prüfen. Das IPA entwickelte auch ein umfangreiches Programm für das Training von Schülern und jungen Studenten. Allerdings wurde es bereits 1942 wieder eingestellt. Der Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg hatte schließlich zu einem massiven Zuwachs von Propaganda geführt, die „im Dienst der Demokratie“ nicht kritisch hinterfragt werden sollte. Auch das IPA hatte immer zwischen „guter“ und „schlechter“ Propaganda unterschieden. In Kriegszeiten sei es allerdings besonders schwierig für die Bürger, „gute“ und „schlechte“ Propaganda auseinanderzuhalten. Das kritische Projekt der IPA musste daher erst einmal auf Eis gelegt werden.

Die „gute Propaganda“ hatte zu dem Zeitpunkt ohnehin schon sehr mächtige Vertreter. Der prominenteste, Edward Bernays, hatte 1928 in seinem Buch „Propaganda: Die Kunst der Public Relations“ noch versucht, den Begriff der Propaganda, der spätestens seit dem ersten Weltkrieg einen negativen Klang hatte, zu rehabilitieren. Als das nicht gelang, schwenkte er vollständig auf den Begriff der PR anstelle von Propaganda um. Als Meister der entsprechenden Techniken hatte er in den folgenden Jahrzehnten immensen Einfluss auf die amerikanische Wirtschaft und Politik. In seinem Buch von 1928 bringt er die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Menschen in modernen Gesellschaften von der Komplexität der Wirtschaft, der Politik und des Sozialen so überfordert seien, dass sie auf Propaganda im Sinne einer intelligenten Leitung angewiesen seien.

Der Blick auf diese fast hundert Jahre alten Überlegungen ist heute in einer Zeit abermalig wirkungsmächtiger Propaganda interessant, denn es zeigen sich hier sehr deutlich zwei verschiedene Menschenbilder: einerseits das des unabhängigen und rationalen Bürgers, andererseits das des irrationalen hilflosen und unmündigen Bürgers. Mir kam das in den Sinn, als ich in der vergangenen Woche drei aktuelle wissenschaftliche Studien in die Finger bekam. Eine hatte getestet, welchen Einfluss explizite Warnungen vor Medien-Bias auf Leser besonders rechtslastiger oder besonders linkslastiger politischer Artikel hatte — also letztlich ein Test der Strategie des IPA (der Erfolg der Warnungen hielt sich in Grenzen). Eine andere Studie hatte versucht, Zuschauern von Fox-News die Informationsverzerrungen dieses Senders dadurch vor Augen zu führen, dass sie dafür bezahlt wurden, einen Monat lang CNN zu schauen. Das funktionierte zwar, die Effekte waren aber nach kürzester Zeit wieder verflogen. In der dritten Studie ging es darum, dass man Lügen milder verurteilt, wenn sie Dinge betreffen, von denen man sich vorstellen kann, dass sie zukünftig wahr werden. Sobald man also ein entsprechendes Narrativ mitliefert, kann man ungestrafter lügen — ein Phänomen, das etwa Donald Trump immer wieder zugutegekommen ist. Die Studien zeigen, dass die Frage, mit welchem Menschenbild wir dem aktuellen Problem der Propaganda, der Falschinformation, der kursierenden Infodemien begegnen können, uns immer noch umtreibt. Und sie zeigen leider, dass Aufklärung nicht sonderlich gut funktioniert. Wenn Menschen etwas glauben wollen, machen sie das mit großer Beharrlichkeit. Und die Beweggründe dafür, sind oftmals alles andere als rational.

Das deckt sich mit unseren Erfahrungen. Es ist schon sehr erstaunlich, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen, die aktuell lauthals von sich behaupten, Propaganda besonders kritisch gegenüberzustehen, nicht selten bereitwillig russische Propaganda akzeptieren, deren Urheber offen kommunizieren, dass es ihnen nicht um ausgewogene Information geht, sondern um eine gezielte Manipulation der Menschen. Auf der einen Seite mag man daraus schließen, dass unter den Werkzeugen des IPA das auf kritische Prüfung der eigenen Vorurteile und Biases abzielende ABC mindestens so wichtig ist wie das der Propaganda-Techniken, nach denen man in den Aussagen anderer Ausschau halten sollte. Auf der anderen zeigt die aktuelle Situation, dass eine aufgeklärte propagandakritische Haltung wenig hilft, wenn es kein Vertrauen gibt in diejenigen Institutionen, die in einer Demokratie für die Bereitstellung ausgewogener Informationsbeschaffung verantwortlich sind. Konstruktive Kritikfähigkeit muss immer ein vertrautes und vertrauenswürdiges Fundament besitzen. Wenn wir ausnahmslos alles anzweifeln, sind wir in einer komplexen Welt orientierungslos. Aber wo ist die Grenze zu setzen zwischen Vertrauen und Skepsis?

Mein Eindruck ist, dass man beim Durchdenken aktueller akuter Probleme immer wieder auf diesen Begriff des Vertrauens stößt. Und insofern ist es ganz wunderbar, dass sich unser aktuell entstehendes Kursbuch dem Thema Vertrauen widmet.

  • David E. Broockman, Joshua Kalla: “The manifold effects of partisan media on viewersbeliefs and attitudes: A field experiment with Fox News viewers*”, preprint
  • Beth Anne Helgason, Daniel Effron: “It might become true: How prefactual thinking licenses dishonesty”, Journal of personality and social psychology
  • Timo Spinde et al.: “How do we raise media bias awaress effectively? Effects of Visualizatoins to communicate bias”, Plos One
  • FAZ Podcast Wissen “Was können wir glauben?” https://www.faz.net/aktuell/wissen/f-a-z-wissen-der-podcast-zu-17976959.html

Sibylle Anderl, Montagsblock /168

25. April 2022