Montagsblock /164

1949 führte der Psychologieprofessor Harry F. Harlow zusam­men mit seinem Team ein Lernexperiment mit Rhesusaffen durch. Die Tiere wurden mit einer Art von Intelligenzspiel konfrontiert: ein kleines Brett, auf dem ein Scharnier montiert war, das sich öffnen ließ, wenn man einen Stift zog und einen Haken löste. Das Team legte die Vorrichtungen in die Käfige und beobachtete, was pas­sierte. Die Affen begannen mit den Brettchen zu spielen und fan­den schnell heraus, wie die Vorrichtung funktionierte. »Das Lösen des Problems führte nicht zu Essen, Wasser oder sexueller Beloh­nung«, notierte Harlow. Der biologische Antrieb erklärte es nicht. Und auch der zweite der beiden Antriebe, die das Verhalten von Lebewesen steuern sollen, schlug fehl: Belohnung oder Bestra­fung. Denn die Tiere waren sich ja selbst überlassen. Was konnte die Affen motiviert haben? Harlow entwickelte eine neue Theorie, die einen »dritten Antrieb« beschrieb: »Die Ausführung einer Auf­gabe lieferte intrinsische Belohnung«, schrieb er; später sprach er von »intrinsischer Motivation«. Übrigens: Wenn die Affen zu­sätzlich etwas zum Essen als Belohnung bekamen, machten sie mehr Fehler und waren weniger erfolgreich. Seither wissen wir, dass es mehr als sichtbare Anreize für Säugetiere gibt.

Der derzeit gefährlichste Rhesusaffe weltweit heißt Wladimir Putin. Analog zu Harlows Intelligenzspiel müssen wir auch bei ihm annehmen, dass Bestrafung und Belohnung keine sichtbaren Konsequenzen nach sich ziehen (auch wenn wirtschaftliche Sanktionen das Land durchaus erschüttern). Putins Kriegsbrett ist das frühere Zarenreich. Das Scharnier zu öffnen, bedeutet für ihn, den militärischen Stift zu ziehen, um den Haken zur Bekämpfung der verhassten „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) zu lösen. Seit Jahren hat Putin mit diesem Kriegsbrett gespielt, immer und immer wieder theoretisch Stift und Haken gelöst, um intrinsisch freie Bahn und Überzeugungskraft zu erlangen. Gleichzeitig wurde damit das Herz des alten großrussischen Zarismus so stark reanimiert, dass es wieder kräftig zu schlagen begann. Putin löste sich von allen geopolitischen Verpflichtungen und begann, nur noch sich selbst zu steuern. Jeglichen Einfluss von außen oder gar gesteuert zu werden, wies er zurück. Und so überfiel er seine abtrünnigen Artgenossen in der Ukraine im Gefühl, eine ausreichende intrinsische Belohnung zu empfangen.

Es wird immer davon geredet, welches narrative Ausstiegsszenario man Putin anbieten müsste, um den Krieg zu beenden. Die Vorstellung, man könne ihn durch Bestrafung oder Belohnung beeinflussen oder ihn steuern, schlägt fehl. Siehe oben. Das Kriegsbrett gibt er außerdem nicht mehr freiwillig her. Zu sehr gefällt ihm das Lösen von Stiften und Haken, um den großrussischen Traum aufrecht zu erhalten. Widerstand zwecklos. Angriff sinnlos. Und es kommt noch schlimmer. Wenn Olaf Scholz&Co. den russischen Präsidenten gebetsmühlenartig auffordern, den Krieg sofort zu beenden, aktivieren sie nur eine paradoxe Kommunikationssituation, die jede weitere Entwicklung verhindert. Mit ihrer Affirmation, sofort einen Waffenstillstand herzustellen, fordern sie Putin auf, etwas zu befolgen, das befolgt werden muss. Putin darf es aber nicht befolgen, weil er es dann befolgen müsste. Paul Watzlawick bezeichnet das als eine Paradoxie. „Bestandteil einer Paradoxie ist eine Doppelbindung. Man spricht dann von einer Doppelbindung, wenn sich die Aussagen, die ein Sender in einer bestimmten Information beziehungsweise Kommunikation gibt, nicht miteinander vereinbaren lassen.“ Das wäre, wie wenn sich ein starker Junge vor einen schwächeren Jungen stellen und ihm sagen würde: „Du brauchst dich nicht zu wehren.“

Genau das aber tut die Ukraine. Sie versucht als Stellvertreter Europas, Putin mit militärischer Gegengewalt das Kriegsbrett wegzunehmen. Als Pazifist hätte ich mir nie vorstellen können, diese Ausübung von Gewalt nur im Ansatz zu legitimieren. Denn so plausibel Armin Nassehis letzter Montagsblock die Zügelung des Furors auf westlicher Seite begründet hat, spielt dieses Argument dem starken Jungen Putin gleichzeitig in die Hände, der dadurch immer perfider erkunden kann, wie weit er gegenüber der schwächeren Ukraine (und damit eigentlich Europa) gehen darf. Das Problem: Die Zurückhaltung des Westens eröffnet ihm eine einseitige Spirale der Gewalt. Mit der Folge: Der Westen zügelt sich immer stärker in die Defensive des Paradoxen. Und ist am Ende zum Zuschauen verdammt.

Alle Wege abgeschnitten? In unserer kleinen Zerlegungsarchitektur möglicher Lösungen fehlt nur noch eine. Der Rhesusaffe Putin verliert irgendwann das Interesse und die Neugier an seinem kriegerischen Brettspiel. Das wäre aber der Ausgangspunkt einer ebenso paradoxen Betrachtungsweise. Denn zuvor könnte Putin je nach persönlichem Irrsinnskoeffizienten die Welt in Schutt und Asche legen.

Putin: „Wir tun, was wir können.“ Der Westen: „Wir können, tun es aber nicht.“

Was für ein Dilemma. Wir vermeiden die Konfrontation und ermöglichen sie dadurch erst. Ja, die Zügelung der Gewalt ermöglicht sie. Ich hoffe weiterhin inständig, dass Armin Nassehi am Ende recht behält.

Peter Felixberger, Montagsblock 164

28. März 2022