Der Überfall, man muss wohl inzwischen sagen: Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine ist schwer zu ertragen. Es ist ein Krieg, der zum Teil in Echtzeit in den sozialen Medien mitverfolgt werden kann. Es gibt letztlich keine Möglichkeit, diesen Bildern auszuweichen, auch nicht den Berichten über die immer stärker werdenden Angriffe. Während ich dies schreibe, geht gerade die Meldung über den Ticker, dass die russische Vernichtungsarmee sogenannte supersonic missiles einsetzt. Diese Dinger töten gerade Menschen, sind aber vor allem an Dritte gerichtet: an Beobachter im Westen, an die NATO, an uns. Es wird gemeldet, dass die Einschläge dieser tödlichen Waffen, gegen die es angeblich wenig Gegenwehr geben soll, in der Nähe zu Rumänien, also zu NATO-Gebiet erfolgen. Jan Philipp Reemtsma hat einmal geschrieben, Gewalt richte sich nicht nur gegen das Gewaltopfer, sondern vor allem an Dritte, denen gegenüber demonstriert wird, dass man die Gewalt anwenden kann und auch anwendet, wenn es sein muss. Diese Gewalt ist auch eine Demonstration, eine Provokation. Und sie ist monströs.
Die Bilder, die derzeit um die Welt gehen, sind für pazifizierte Gesellschaften wie unsere kaum auszuhalten. Wir kennen sie aus der Filmästhetik, aber sie sind real. Sie schrecken auf. Für mich war das eindringlichste Bild das einer verletzten schwangeren Frau, die aus einem Krankenhaus in Mariupol getragen wurde – Berichte sagen, weder die Frau noch das Kind hätten überlebt. Das Bild könnte eine ähnlich ikonische Qualität bekommen wie das Bild von Kim Phuc 1972 im Vietnam-Krieg nach einem Napalm-Angriff. Wer sich nicht erinnert, möge googeln.
Diese Bilder erzeugen Entsetzen, Verachtung, sogar Hass, starke Emotionen. Und sie sind in ihrer Brutalität der kalkulierte Versuch einer Herausforderung etablierter Zivilisationsschranken. Der erste Impuls ist bei Vielen sicher das Zurückschlagen, das Verhindern, auch Rache und Vergeltung. Wer diese Gefühle leugnet, leugnet eine geradezu naheliegende Reaktion. Und doch sind wir in der Lage, diese Gefühle zurückzunehmen, zu dosieren, zu zivilisieren. Wir werden des Bösen ansichtig – auch wenn wir das Böse inzwischen vollständig wegpathologisiert und wegrationalisiert haben. Aber das Böse sieht uns an.
Sicher würde der Westen, würde die NATO der Ukraine zu Hilfe eilen, in den Krieg eingreifen, Verteidigung ermöglichen, den Aggressor zurückwerfen, wenn dieser keine Atommacht wäre. Zumindest hilft der Westen. Aber was doch sehr deutlich ist, ist seit Kriegsbeginn der Versuch, die Emotionen zu dämpfen und nicht unmittelbar zu reagieren. Vielleicht ist es eine der größten Zivilisationsleistungen überhaupt, diesen Gefühlen nicht nachzugeben, sondern sie kühl und distanziert zum Gegenstand der eigenen Reaktion zu machen. Dass die NATO keine Flugverbotszone durchsetzen will, entspringt einer Mischung aus Angst vor der Gegenreaktion und der Gefahr einer weiteren Eskalation. Sehr kühl wird kalkuliert, ab wann die Schwelle zur Kriegsteilnahme erreicht sein wird – um alles Darunterliegende zu versuchen, in Form von Geld und von Waffen (wir Deutsche können nicht einmal, wenn wir wollen, weil schlicht nicht genug im Bestand vorhanden ist, obwohl schon vor der „Zeitenwende“ sehr viel Geld dafür ausgegeben wurde).
Die Zivilisationsleistung besteht darin, die Verhältnismäßigkeit zu wahren – das ist übrigens nichts, was sich in einer kulturellen West-Ost-Matrix auflösen lässt. Oft genug hat auch „der Westen“ diese Verhältnismäßigkeit fehlen lassen – man denke an den Irak-Krieg oder an Vietnam. Bei der schon erwähnten Ikone Kim Phuc hat das wenigstens zur Folge gehabt, dass die demokratische Staatsführung unter Druck gesetzt wurde und ein Bewusstsein für die Unverhältnismäßigkeit entstand.
Ich will nur darauf hinaus, auch mitzubedenken, dass der barbarische Krieg Russlands – nicht nur Putins, das wäre eine allzu politisch korrekte Verkürzung – auch eine Herausforderung an die eigenen zivilisatorischen Standards ist. Die symbolische Zurückhaltung der USA nach der Ankündigung Putins, die eigenen Nuklearstreitkräfte auf eine höhere Bereitschaftsstufe zu stellen, gehört dazu. Die Hilfe ukrainischen Flüchtlingen gegenüber gehört dazu. Sogar die Unterstützung mit militärischen Waffen gehört dazu.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war unter anderem eine Erfahrung, die mit vielen Vorurteilen aufräumt, die sich eine allzu pazifizierte Gesellschaft über das doch sehr notwendige Militärische macht: Während viele Zivile, zivil bis zur letzten Patrone, Flugverbotszonen und sogar Eingriffe ins Geschehen fordern, sind es vor allem Militärs, die zur Besonnenheit aufrufen.
Die Aggression der russischen Armee ist auf vielen Ebenen eine Herausforderung für zivilisatorische Errungenschaften. Die Dämpfung der Gegenreaktion, die Rationalisierung unmittelbarer Gefühle und die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist die wohl höchste Zivilisationsleistung, die es gibt.
Aber diese „Dämpfung der Triebe“ (wie es in Norbert Elias‘ Zivilisationstheorie heißt) ist nicht nur eine große zivilisatorische Leistung, die mit jedem Kriegstag schwerer fällt. Sie ist auch die Quelle eines Dilemmas, das die Herausforderung noch stärker macht. Ich habe keine Ahnung von militärischen und nur wenig von völkerrechtlichen Fragen. Ich habe auch nicht genügend ökonomische Urteilskraft, um beurteilen zu können, welche Auswirkungen ein sofortiger Stopp von russischen Energielieferungen für die deutsche (und europäische) Volkswirtschaft hätte und ob dies unsere Verteidigungsfähigkeit und auch die Stärke des demokratischen Westens nicht in Gefahr bringen würde. Plausibel scheint mir, dass ein Energielieferstopp die jetzigen Kriegshandlungen nicht beeinflussen würde – aber es wäre ein starkes Signal an die russische Führung, der ohnehin viel zu viel signalisiert wird, was wir alles nicht machen können und wollen. Bleibt die moralische Frage, wie sich unsere Lieferketten und Energiemodell selbst in eine Abhängigkeit bringen konnten, die sich offensichtlich hinter einem latenten Glauben daran, es werde schon gut gehen, versteckt hat. Dass nach 2014 noch Waffen an Russland verkauft wurden, ist eine offenkundige Schande der Vorgängerregierungen – und das mit einer Kanzlerin, die sich über die autoritären Neigungen des russischen Diktators keine Illusionen gemacht hat. Diesen Regierungen gehörte übrigens auch die größte jetzige Regierungspartei an. Der Bundeskanzler hielt North Stream 2 noch vor wenigen Wochen für ein rein privatwirtschaftliches Unterfangen – Zeitenwende hin oder her.
Was nervt, ist die Selbstsicherheit, mit der alle möglichen Beobachter die genaue Lösung des Dilemmas kennen – von der Aufforderung an die Ukraine, sich dem Aggressor zu ergeben, bis hin zum Risiko einer direkten Auseinandersetzung mit Russland. Dass die westliche, auch die deutsche Regierung hier zurückhaltend ist, ist eine große Zivilisationsleistung – aber das moralische Dilemma bleibt, unabhängig davon, wie man sich entscheidet. Es wäre sonst kein Dilemma.
Vor diesem Hintergrund war das Ausweichen des Deutschen Bundestages in der vergangenen Woche vor der flehentlichen Rede des ukrainischen Präsidenten nicht nur peinlich, unhöflich und unsensibel. Es war in seiner ganzen verdrucksten Form fast eine ästhetische Installation des Dilemmas, aber auch der Unfähigkeit oder des mangelnden Willens, sich diesem Dilemma zu stellen.
Hätte es doch danach eine Rede des Bundeskanzlers gegeben, der nicht nur eine hohe Kreditaufnahme zur Ausrüstung der Bundeswehr ankündigt, sondern das Dilemma klarer benennt und doch einen Ausweg zeigt, wie man die Ukraine wenigstens verteidigungsfähig machen kann. Wenn die Bundeswehr unterausgestattet ist und zu wenig Material hat, steht doch bestimmt die Rüstungsindustrie zur Verfügung – für Lieferungen nach Russland gab es nach 2014 ja auch Kapazitäten. Wäre es nicht der Ort gewesen, auch dem ukrainischen Präsidenten und der eigenen politischen Öffentlichkeit das Dilemma klar zu schildern? Ist im Falle des Militärischen die Zurückhaltung eine große Tugend und ein Zeichen von Stärke, ist sie hier eher ein Zeichen von Schwäche und Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es ist auch ein latentes Misstrauen in die eigene Überzeugungskraft und in die Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler, sich dem Problem zu stellen. Wäre es so schwer, die Öffentlichkeit zu überzeugen? Wäre es so falsch, hier wenigstens ins Risiko zu gehen und um Gefolgschaft zu werben? Wäre es so abwegig, der Urteilskraft der Menschen zu trauen? Und wäre es so unwahrscheinlich, sich an die Spitze der Lösung zu setzen und in einer schwierigen Situation sozialverträgliche Lösungen zu finden und eine industrielle Durststrecke zu bewältigen? War nicht Führung angekündigt? Gehört dazu nicht auch die Zumutung gegenüber den Geführten?
Ich gebe zu, diese Vorwürfe sind leicht formuliert. Und sie erfolgen hier nicht mit dem Wissen, was das Richtige ist – vor allem, was das Energieembargo angeht. Das ist für einen verbeamteten Wissenschaftler am warmen Schreibtisch leichter zu fordern als für viele andere. Moralisch gesehen, fällt das Urteil klar aus, aber bei genauem Hinsehen entstehen Zweifel. Aber der Zweifel ist gerade eine echte, eine zumutbare Information und nicht zuletzt intellektuelle Stärke.
Keine Zweifel hätte ich damit, dass dem eigenen (sic!) Wunsch der Ukraine stattgegeben werden muss, sich gegen Russland, ich wiederhole: Russland, nicht nur Putin, zu verteidigen und ihm eine militärische Niederlage beizubringen. Dafür darf kein Mittel zu gering sein. Aber wenn die Berichte stimmen, scheitern wir gerade daran, sogar diese niedrigschwellige Hilfe leisten zu können. Das Schweigen dazu in der letzten Woche war geradezu dröhnend.
Und gibt der Wille der Ukraine zur Freiheit nicht zu denken? Gemeint ist nicht diese idiotische Freiheitsdebatte, die hier gerade angesichts der Pandemie geführt wird, in der die Maskenpflicht als Einschränkung von Grundrechten imaginiert wird. Das ist Wohlstandsquatsch. Gemeint ist politische Freiheit, das ist auch die Freiheit, sogar solch einen Blödsinn öffentlich sagen zu können
Es wiederholt sich ein Muster, das wir aus der Pandemie kennen: Statt konsequenter Maßnahmen wurde Vieles nur halbherzig gemacht, weil man dachte, es sei der Bevölkerung nicht zuzumuten. Das hat viele Durststrecken verlängert, viele Maßnahmen ihres Sinns entkleidet und viele unnötige Einschränkungen zur Folge gehabt. Und am Ende paradoxerweise mehr Zumutungen. Aus diesem Muster herauszukommen, müsste doch in diesem Falle gehen, oder ist das zu naiv gedacht?
Wenn es zu naiv ist, dann braucht es offensichtlich Leute, die naive Fragen stellen. Gern geschehen.