Montagsblock /162

Der kürzlich verstorbene Astronomieprofessor Erwin Sedlmayr, der vor knapp 20 Jahren meine Begeisterung für die Astrophysik weckte, war unter den Studierenden der TU Berlin insbesondere für seine Einführungsvorlesung bekannt und verehrt. Diese Vorlesung, auch Kindergottesdienst genannt, zeichnete sich dadurch aus, dass es zwar grundsätzlich um die Grundlagen der Astronomie ging, daneben aber vor allem um viele andere Dinge: um Kulturgeschichte, Erkenntnistheorie, Ethik und viele andere lebenspraktische Themen und Überlegungen. Natürlich war es außerdem Ziel der Vorlesung, möglichst viele Studentinnen für einen weiteren Weg in die Astrophysik zu gewinnen. Und so präsentierte er eines Tages als einen weiteren der vielen bereits bekannten Vorzüge der Astronomie, dass sie ganz eindeutig die friedliebendste unter den physikalischen Disziplinen sei. Das Verständnis der Phänomene im Kosmos sei für alle praktischen irdischen Belange weitgehend irrelevant, und daher müsse man sich als Astrophysiker nicht sorgen, dass die eigenen Kompetenzen für moralisch fragwürdige Zwecke missbraucht werden könnten: Es gebe keine Notwendigkeit für Tierversuche, man müsse nicht fürchten, dass Laborexperimente in der Außenwelt außer Kontrolle geraten, die eigenen Erkenntnisse würden nicht zum Schaden der Menschheit eingesetzt werden können.

Mir kam das damals außerordentlich plausibel vor, zumal ich durchaus Kommilitonen hatte, die von der Rüstungsindustrie abgeworben worden waren — die Gefahr auf die falsche Seite zu geraten erschien real. Galaxien, Sterne, Gaswolken und Planeten wirkten dagegen wie moralisch sicheres Terrain, sehr gut passend zu meiner studentischen pazifistischen Grundausrichtung. Das war natürlich nicht der ausschlaggebende Grund, warum ich meine Diplomarbeit der Analyse kosmischer Maser und nicht etwa der Kernphysik widmete. Aber es war eine schöne Geschichte. Und diese Geschichte der friedliebenden Astrophysik und Raumfahrt ist nach wie vor verbreitet: Der Blick auf die Erde, der alle nationalen Grenzen vergessen macht, der uns die Einheit der Menschheit auf dem kleinen Planeten in den Weiten des Alls vor Augen führt. Die internationale Architektur der heutigen Forschung passt zu diesem Narrativ, die Rechtfertigung teurer astronautischer Raumfahrtprojekte als Symbole der friedlichen internationalen Kooperation hat es fortgeführt.

Natürlich war schon immer klar, dass auch nicht die Astrophysik und erst recht nicht die Raumfahrt unabhängig von der Rüstungsindustrie zu denken waren. Erst der zweite Weltkrieg erschloss mit seinen technologischen Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Radartechnik weite Bereiche des elektromagnetischen Spektrums für die Erforschung des Alls. Der größte Teil der nach dem Krieg in der Forschung verwendeten Technologie war ursprünglich vom Militär entwickelt worden. Wichtige astronomische Entdeckungen passierten sogar in einem vollständig militärischen Kontext, etwa die Entdeckung von Gammablitzen Ende der Sechziger Jahr durch die amerikanischen Vela-Satelliten, die eigentlich irdische Atombombentests aufspüren sollten. Die Astronomie wäre im vergangenen Jahrhundert wohl nicht in dem Maße finanziell gefördert worden, wenn sie nicht immer auch aus militärischer Perspektive interessant gewesen wäre.

Und trotzdem: Die schöne Geschichte der friedlichen Wirkung der kosmischen Sphäre ist vollständig für viele erst in diesen Tagen zerstört worden, und zwar mit atemberaubender Geschwindigkeit: Der europäische Marsrover Rosalind Franklin wird vielleicht niemals den Marsboden erreichen, da er sich dafür auf russische Hilfe verlassen wollte, das eROSITA-Röntgenteleskop an Bord des russisch-deutschen Weltraumobservatoriums Spektr-RG wurde vorerst abgeschaltet, die Zukunft der internationalen Raumstation, als Symbol der friedlichen internationalen Nutzung des Weltraums, ist unsicher. Forschungskooperationen liegen auf Eis. Der Krieg in der Ukraine hat auch diesen Teil unserer Lebenswirklichkeit radikal verändert. Selbst das All, der sonst so sichere Rückzugsort vor irdischen Sorgen, kann keinen Trost mehr bieten.

Sibylle Anderl, Montagblock /162

14. März 2022