Montagsblock /157

Ist „Freiheit“ der neue „Kapitalismus“? Eines der Kolateralopfer des öffentlichen Diskurses über die Pandemie ist ohne Zweifel die „Freiheit“, wohlgemerkt, die „Freiheit“, nicht die Freiheit. Dass die angemessene Reaktion auf die Pandemie eine Herausforderung für die Freiheit ist, dass es freiheitseinschränkende Maßnahmen gab und gibt und geben muss, dass es einen praktischen Widerspruch zwischen unterschiedlichen Freiheits- und Grundrechten gab und gibt, ist ebenso selbstverständlich wie erwartbar. Und dass dies ein Konfliktthema ist, ist begrüßenswert in einer Demokratie, die herrschenden politischen Mehrheiten gute Gründe abringen muss. Gemeint ist eher die „Freiheit“, also die Freiheit als Begriff oder als Chiffre.

Es ist schon viel geschrieben worden – gerade darüber, dass diejenigen, die fast jede staatliche Maßnahme, fast jeden Versuch der Etablierung von angemessenen Regeln, fast jeden Hinweis auf Beschränkungen nicht im Hinblick auf die Sache und die Plausibilität der Begründung beurteilen, sondern als explizit gewollte Freiheitseinschränkung oder als Ausdruck einer gerade den Deutschen inhärente Freiheitsfeindschaft. Es sind nicht nur die sozialen Medien voll solcher Anwürfe, sondern auch mancher Leitartikel und gedruckter Debattenbeitrag. Es sind vor allem libertäre Formen eines Liberalismus, der sich mit bloßem Egoismus verwechselt, es ist eine fast prinzipielle Staatskritik, die semantisch in Manchem einem radikalen Anarchokapitalismus das Wort redet, es ist ein libertärer Populismus, der wie jeder Populismus den Eliten vorhält, wo das „eigentliche“ Volk steht. Es geht um eine eher popkulturelle Form der Freiheitspose, die sich dann eben popkulturell weniger um gute Gründe kümmern muss als um den ästhetischen Wirkungstreffer, bei dem der Hinweis auf die gefährdete Freiheit eher einer psychedelischen Karikatur gleicht als der Grundfrage des politischen Liberalismus, wie sich individuelle Freiheit und kollektiv bindende Entscheidungen miteinander versöhnen lassen.

Aber warum der neue „Kapitalismus“? Ich habe meine schulische, akademische und politische Sozialisation in den 1970er und 1980er Jahren genossen. „Kapitalismus“, nicht der Kapitalismus, sondern „Kapitalismus“ war eine Chiffre, die fast alles erklärt hat: große historische Entwicklungen, Quelle aller Probleme der Gesellschaft, Grundlage aller gesellschaftlichen Konflikte. „Kapitalismus“ war der Hauptwiderspruch, von dem sich alle Nebenwidersprüche abgeleitet haben, und „Kapitalismus“ war zugleich ein Segen, weil dieses Symbol, dieser Begriff, dieses Wort dabei half, die Mannigfaltigkeit der Eindrücke über eine unübersichtliche Welt zu ordnen und konsistent zu vermitteln. Wie ein reiner Verstandesbegriff hat er der prinzipiell unübersichtlichen Welt eine Ordnung gegeben. Sein Medium und seine ästhetische Form war entweder der gehaltvolle akademische oder politische Text oder die kritische Pose, die als Kritik fast von selbst mit Kapitalismuskritik zusammenfiel. „Kapitalismus“ wurde auch zur popkulturellen Pose, die Begründungspflichten durch die Stärke des Takes wegarbeiten konnte. Das funktioniert übrigens immer noch. Wenn in meinem akademischen Milieu etwas mit Nachdruck gesagt werden soll, dann sagt man „im Kapitalismus“ und weiß Bescheid. (In Parenthese formuliert: Es hat eine gewisse Ironie, dass vor allem das posenhaft Libertäre ähnlich performativ auf den „Kapitalismus“ rekurriert, der als die einzige überindividuelle Ordnungsform gelten soll – „anarchokapitalistisch“ nennt sich das manchmal, das schreit geradezu nach popmusikalischer Vertonung.)

Zugegeben, das ist sehr holzschnittartig, was ich hier montagsblockend andeute, aber kapriziert man sich nicht auf Inhalte, sondern aufs Performative, dann ist die Parallele doch ziemlich frappierend. Die posenhaften Formen „Freiheit“ und „Kapitalismus“ ähneln sich in zweierlei Hinsicht: zum einen sehen sie performativ so aus, als stecke dahinter ein Argument. Aber die ubiquitäre Nutzung des Kapitalismusbegriffs ist eben kein Argument, sondern eben nur eine Pose, deren popkulturelle Form nur ästhetisch zu verstehen ist. Und die Diffamierung jeder Corona-Maßnahme als Angriff auf die Freiheit als solche ist ebenfalls kein Argument, sondern eher ein posenhafter Selbstschutz, der sich dann eben nicht weiter darum kümmern muss, was denn nun zu tun sei.

Zum anderen besteht der gemeinsame Kollateralschaden darin, dass ja sowohl „Kapitalismus“ als auch „Freiheit“ auf ernsthafte Fragen verweisen. Aber es sind die posenhaften Formen mit ihrer performativen Selbstgenügsamkeit, die gerade den Diskurs um Kapitalismus und Freiheit vergiften. Denn es sind ja tatsächlich entscheidende Fragen, etwa welche Folgen Märkte mit ihren unbestrittenen Potentialen und eigensinnigen Effekten für die Gesellschaft haben, wie sich die volatile Selbstreferenz marktlicher Ökonomien mit der politischen und der lebensweltlichen Herstellung von Kontinuität vertragen. Es ist eine noch ungelöste Frage, wie die Ausdifferenzierung eines weltweiten ökonomischen Systems interne und externe Stoppregeln etablieren kann. Und es ist die Frage einer angemessenen Regulierung ökonomischer Dynamik, um Versorgungs-, Verteilungs- und Allokationsprobleme zu lösen. Dass man das liberaler und weniger liberal, staatszentrierter und weniger staatszentriert, aktiver und passiver, egalitaristisch und weniger egalitaristisch betreiben kann, versteht sich von selbst – denn darum geht es ja gerade. Der Hinweis auf den Kapitalismus beinhaltet die Grundfrage gesellschaftlicher Ordnung, nämlich die Koordination unterschiedlicher Akteurs- und Ordnungsebenen, die man kaum diskutieren kann, wenn der Hinweis auf „Kapitalismus“ schon immer alles gelöst hat.

Und wenn das hier auch nur angedeutet werden kann, es sollte deutlich geworden sein, dass die bloße Chiffre das Problem eher verdeckt – und diese Andeutungen sollen nur dazu dienen, die gegenwärtige Inanspruchnahme von „Freiheit“ als das zu beschreiben, was sie ist: Die Flucht davor, sich der Komplexität des Problems zu stellen. Wer das Problem der Freiheit so verbiegt, dass davon nur die Forderung nach ausschließlich individuellen Entscheidungen und möglichst wenigen kollektiv bindenden Entscheidungen bleibt, definiert das Problem geradezu weg. Ich will das hier gar nicht inhaltlich ausdiskutieren – man käme dann auf die historische Erfahrung, dass die Etablierung von Freiheitsrechten als Abwehrrechte gegen die Herrschenden und die Forderung nach positiven Freiheiten individueller Lebensgestaltung auf jene Rahmenbedingungen zielt, in denen das möglich ist. Freiheit muss in einer Welt etabliert werden, die schon da ist. Wer Freiheit nur mit der Pose verbindet, kollektiv Bindendes sei vom Teufel, kann das nur in einer Welt tun, in der die meisten Probleme schon gelöst sind und bereits eine Ordnung herrscht, deren Geltung sich praktisch bewährt haben muss. Als könnte es eine kapitalistische Wirtschaftsordnung ohne politische, rechtliche und auch mentale Ordnungsvoraussetzungen geben. Das kann man nur vergessen, wenn man zu den verwöhnten Nutznießern einer schon bestehenden Welt gehört, die Räume für individuelle Entscheidungen bereits etabliert hat.

Was ich sagen will: Man hat den „Kapitalismus“-Posern früherer Zeiten teilweise zu Recht vorgeworfen, in gut versorgten, verwöhnten braven akademischen Lebensformen mehr Pose zu suchen, als sich um die Fragen selbst zu kümmern. Genauso verwöhnt scheint die pandemische Freiheitspose zu sein, die sich gerade nicht um Problemlösung kümmern muss, sondern nur um die Diskreditierung von Bemühungen um Problemlösungen. Die so unterschiedlichen posenhaften „Systemkritiker“ sind Beides: nicht an den empirischen Sachfragen orientierte Perspektiven, denen es fast nur um Kritik um ihrer selbst willen geht, weil man die handelnden Eliten verachtet und Teil genau dieses Systems, für das sie sich nicht wirklich interessieren.

Die naive Kapitalismuskritik damaliger Zeiten hat sich noch nicht ganz überlebt, aber sie hat an sich selbst eine Menge gelernt. Sie hat zum Beispiel gelernt, dass sich ökonomische Transformationen nur mit den Mitteln der ökonomischen Logik bewerkstelligen lassen, sie hat gelernt, wie paradox Steuerungswirkungen sein können und sie hat gelernt, dass sich nicht alles aus einem Prinzip ableiten lässt. Das ermöglicht dann auch angemessene kritische Perspektiven auf Allokationsprobleme, auf Ungerechtigkeiten und nicht zuletzt auf ökologische Folgen des Wirtschaftens. Ändern lässt sich der Kapitalismus wahrscheinlich nur im Kapitalismus.

Wahrscheinlich beeindruckt es die libertären Systemkritiker nicht, auf diese Parallele hingewiesen zu werden – aber damit muss man rechnen. Nur ist das Problem der Freiheit eben nicht damit gelöst, wie die inzwischen wiedergelesene Ayn Rand das Eigeninteresse als einzigen Maßstab anzusehen und darauf zu hoffen, dass dies wie automatisch zu einer angemessenen Ordnung führe. Positive Schutzrechte werden hier prinzipiell abgelehnt. So etwas kann man als Pose gut gebrauchen, aber es trägt letztlich zur Lösung von konkreten, empirischen Freiheitsfragen nichts bei. Dabei wäre dies tatsächlich die entscheidende normative und empirische Frage, die die Pandemie auf geradezu extreme Weise auf die Agenda gesetzt hat: Die empirische Frage lautet, wie sich die Orientierung allein an Eigenverantwortung und individueller Entscheidungskompetenz auf kollektive Gefährdungen auswirkt, und die normative Frage ist, dass sich Grundrechte in bestimmten Situationen wechselseitig ausschließen oder wenigstens relativieren können. Das Entscheidende ist übrigens: Man muss diese Fragen als ergebnisoffene Fragen stellen, nicht als bloße Herausforderung für die beste Pose, die dann schon alles geklärt hat.

Bei Vielen ist es wie ein Pawlow-Reflex: Bei jeder Lockerung, Rücknahme von Maßnahmen oder Hinweisen auf größere Spielräume bellt es „Freiheit“, bei jedem Hinweis auf notwendige einschränkende Maßnahmen bellt es „Freiheitsfeinde“. Der Blick auf die empirischen und politischen Begründungen dahinter spielt dann keine Rolle. Dass diese umstritten sind und auch falsch sein können, liegt auf der Hand, sonst bräuchte es keine Begründungen, die sich bewähren müssen. Hier wäre übrigens eine Perspektive sehr hilfreich, die das Problem der Freiheit ernster nehmen würde, als die „Freiheit“ es kann.

Nur zur Sicherheit: Der „Kapitalismus“ reicht auch nicht als Erklärung, auch nicht für eine angemessene Einschätzung der ökonomischen Voraussetzungen und Folgen der Pandemie.