Montagsblock /156

Ein mir nahestehender Impfkritiker schickte mir neulich ein Buch. In dem im Jahr 1992 geschriebenen Band werden die Mechanismen der Meinungsmanipulation beschrieben, wie sie von der amerikanischen Regierung zur Rechtfertigung des Golfkriegs angewandt wurden. Die begleitenden Kommentare des Schenkenden legen nahe, dass für ihn der entscheidende Punkt in diesem Buch die unrühmliche Rolle des Journalismus ist. Sie legen außerdem nahe, dass die Intention des Geschenks war, eine Parallele zur wissenschaftsjournalistischen Berichterstattung in dieser Pandemie herzustellen.

Auch ohne das Buch schon gelesen zu haben, nehme ich an, dass mich das geschilderte nicht sonderlich überraschen wird. Dass damals von Seiten der amerikanischen Politik massive Falschinformationen verbreitet wurden, ist weithin bekannt. Ohnehin weiß man: Politiker verfolgen immer auch eigene Interessen, und sei es nur, die eigene Wiederwahl, den eigenen Einfluss zu sichern. Kritische Distanz des politischen Journalismus ist daher immer geboten. Aber kann man das ganz genauso auf den Wissenschaftsjournalismus übertragen? Sind wir Wissenschaftsjournalisten den Wissenschaftlern gegenüber zu unkritisch?

Auf den ersten Blick wirkt die These der manipulierenden Wissenschaftler überraschend. Anders als Politikern würde man ihnen zugute halten, dass ihr Handeln sehr viel weniger von persönlichen Interessen gesteuert ist als das der Politiker. Wissenschaft besitzt gemeinhin eine andere Qualität der Glaubwürdigkeit. Ihr erklärtes Ziel ist Erkenntnisgewinn, ihr Ideal das der interessenfreien Objektivität. Dieses Ideal wird auch strukturell gefördert. Der gesellschaftliche Einfluss von Wissenschaftlern hält sich normalerweise sehr in Grenzen, charakterlich sind Forscher oft öffentlichkeitsscheu und introvertiert. Andersherum: Für Menschen, die nach Macht, Geld und Berühmtheit streben, ist es vielleicht nicht unbedingt naheliegend, sich zuerst viele Jahre bei schlechter Bezahlung forschend in Laboren, in Bibliotheken und vor Computern zu verstecken.

Ich habe kürzlich die Fotografin Herlinde Koelbl, die in ihrem Projekt “Spuren der Macht” Politiker, Wirtschafts- und Medienvertreter zehn Jahre lang begleitete und in den vergangenen Jahren in einem anderen Projekt Wissenschaftler porträtierte, nach von ihr beobachteten Unterschieden zwischen Politikern und Wissenschaftlern befragt. Politiker seien auf die öffentliche Meinung angewiesen, sagte sie, ihr ganzes Tun sei darauf ausgerichtet. Wissenschaftler seien demgegenüber von der Öffentlichkeit unabhängiger und ihr gegenüber daher auch gleichgültiger. Denn sie könnten sich jederzeit wieder dahin zurückziehen, wo sie sich ohnehin am wohlsten fühlen: In ihre Forschung, zu ihren Sachthemen. Politikern würde dieser Rückzugsort fehlen. Ohne die Öffentlichkeit seien sie letztendlich niemand.

Natürlich wäre es naiv, wenn man glauben würde, dass diese allgemeinen Beobachtungen keine Ausnahmen zuließen. In der Pandemie haben sich Wissenschaftler in die Öffentlichkeit gewagt. Sie haben Einfluss bekommen, wurden zu Politikberatern, in die Forschung floss viel Geld. Hat das vielleicht Forscher in die Öffentlichkeit gebracht, die entgegen aller wissenschaftlichen Ideale manipulieren wollen? Natürlich ist es die Aufgabe aller Wissenschaftsjournalisten, diese Möglichkeit kritisch zu prüfen, Hintergründe zu recherchieren, mögliche Interessenkonflikte aufzudecken.

Dabei darf aber eines nicht vergessen werden: Der Wissenschaftsjournalismus beruht nicht nur auf den Aussagen der Wissenschaftler. Er beruft sich zentral auch auf wissenschaftliche Publikationen. Und die durchlaufen, sofern sie in angesehenen Journalen erscheinen, einen rigorosen anonymen Begutachtungsprozess. Die zu veröffentlichen Ergebnisse werden zusammen mit einer kritischen Diskussion ihrer Unsicherheiten und Gültigkeitsgrenzen vor der Veröffentlichung an einen anonymen Kollegen geschickt, dessen Aufgabe ist, die wissenschaftlichen Resultate gründlich und kritisch zu prüfen, offene Punkte zu adressieren und gegebenenfalls fehlende Informationen anzufordern. Nicht selten sind mehrfache Überarbeitungen und Ergänzungen nötig.

Dieser Begutachtungsprozess, zusammen mit der exzessiven Diskussionskultur in den Instituten und auf Konferenzen, ist der institutionelle Schlüssel dazu, wie das Ideal der Objektivität pragmatisch angenähert werden kann — und zwar auch selbst dann, wenn man nicht davon ausgehen kann, dass einzelne Wissenschaftler objektiv urteilen. Wenn man als Wissenschaftsjournalist auf der Grundlage von Publikationen den aktuellen Wissensstand zu bestimmten Themen recherchiert, kann man sich daher sehr viel stärker auf sicherem Gelände wähnen, als wenn man auf der Grundlage politischer Absichtserklärungen und Berichte operiert. Wenn man diesen Unterschied abstreiten wollte, dann müsste man davon ausgehen, dass das gesamte Wissenschaftssystem manipuliert ist. Dass etwa Unternehmen oder Politiker Einfluss darauf nehmen können, was Journale wie Nature oder Science veröffentlichen und wie diese Veröffentlichungen von der internationalen Forschung-Community aufgenommen werden.

Möglich wäre das natürlich. Zum guten Wissenschaftsjournalismus gehört daher auch, kritisch zu prüfen, an welchen Punkten dieses System Schwachstellen hat — wie etwa die unseriösen “predator journals” oder gelegentliche Fälle von Datenfälschung. Solche Fälle sind journalistisch in den vergangenen Jahren dokumentiert worden. Auch der Wissenschaftsjournalismus braucht daher immer eine kritische Distanz dem Objekt seiner Berichterstattung gegenüber. An dem allgemeinen Befund, dass das System ausgiebiger innerwissenschaftlicher gegenseitiger Kontrolle im Großen und Ganzen doch recht gut zu funktionieren scheint, hat die Aufdeckung dieser Schwachstellen nichts geändert — auch wenn die bekannten Probleme zeigen, dass das Wissenschaftssystem sehr aufpassen muss, dass das es auch so bleibt, und zwar trotz des existierenden Publikationsdrucks, der prekären Arbeitsbedingungen vieler Wissenschaftlerinnen und der geringen Wertschätzung der Gutachtertätigkeit. Bislang aber gilt unverändert, dass man sich auf publizierte und begutachtete Forschungsergebnisse in anderem Maße verlassen kann, als auf politische Informationspapiere.

Dass es aber grundsätzlich rationale Menschen gibt, die sich vorstellen können, dass die Wissenschaft insgesamt so korrupt und so wenig vertrauenswürdig ist, dass ein Vergleich zur Manipulationskampagne im Zuge des Irakkrieges angemessen ist, zeigt ein weiteres Mal, dass es nicht ausreicht, einfach nur wissenschaftliche Ergebnisse zu kommunizieren. Die Rolle des Wissenschaftsjournalisten ist, neben der kritischen Prüfung möglicher Interessen individueller Forscher und einzelner Institutionen, auch die Vermittlung der qualitätssichernden Funktionsweisen des Wissenschaftssystems. Er muss auch deutlich machen, was die Wissenschaft zu einer besonders zuverlässigen Quelle von Wissen macht. Denn wenn wir selbst wissenschaftlichen Resultaten nicht mehr vertrauen können oder wollen, berauben wir uns nicht nur einer gemeinsamen Grundlage jenseits politischer Einstellungen, es fehlt uns auch die Wissensbasis, rationale Entscheidungen im eigenen Interesse zu treffen.

24. Januar 2022

Sibylle Anderl, Montagsblock /156