Derzeit fahre ich viel seltener mit dem eigenen Automobil als noch vor einiger Zeit. Nein, das wird keine Geschichte meiner privaten Mobilitätswende in ökologischer Absicht. Dass ich weniger fahre, hängt vor allem damit zusammen, dass ich vor einiger Zeit umgezogen bin und es kaum mehr Gründe gibt, das Auto zu nehmen. Aber wenn ich mit dem Auto fahre (was ich in letzter Zeit ein paarmal musste), höre ich gerne Radio, und da ich in München wohne, gerne Sender des Bayerischen Rundfunks. Natürlich sehr oft Deutschlandfunk, manchmal auch Deutschlandfunk Kultur, klar, dafür muss man gar keine besonderen Studien anstellen, das ist im Hinblick auf Milieu, Beruf, Alter erwartbar, auch BayernKlassik übrigens. Aber im Auto, da höre ich am liebsten Bayern1. Das ist ein Sender, dessen Programm auf diejenigen zielt, deren Popmusikgeschmack v.a. in den 1980er Jahren geprägt wurde, es ist kein Nachrichtensender mit dauerndem Diskussionsprogramm, auch kein Radiofeuilleton, in dem auch das frühe finnische Nachkriegskino oder Ähnliches nicht zu kurz kommt, aber eben auch kein Daddelsender mit pseudojuvenilem Geschnatter, um sich an die entsprechende werberelevante Gruppe ranzuwanzen. Es ist ein Alltagssender, in dem übrigens moderat bayerischer gesprochen wird als in anderen Programmen – bestimmt gibt es in den Medienwissenschaften einen Begriff dafür, den ich aber nicht kenne.
Auf Bayern1 gibt es ein Vollprogramm mit vielen alltagsnahen Informationen. Die Zielgruppe sind die, die man vielleicht die ordinary peoaple nennen könnte, also nicht die besonders Bildungsnahen, meist Leute mittleren und etwas höheren Alters, mit viel Höreranrufen, in der Mehrheit Leute mit nicht-akademischen Berufen, Handwerker, Vertreter, kaufmännisch Tätige, technische Intelligenz, gerne unterwegs aus dem Auto oder vom Arbeitsplatz, Frauen oft in Bürojobs und so weiter. Also wenn man so will, ist das ein sehr diverses Publikum, das seine Distinktionsbedürfnisse jedenfalls nicht über die Zugehörigkeit zu besonders avantgardistischen Formen bedient, sondern letztlich über eine Form, die die von ordinary people sein will.
Schon diese Beschreibung ist irgendwie schräg und riskant, weil man sie ja jetzt in Richtung einer Beschimpfung der akademisch-urbanen-linksliberalen Eliten ausbauen könnte – das ist ebenso beliebt wie langweilig und blöde. Und darum geht es hier auch nicht. Man könnte es auch in eine Art Publikumsbeschimpfung ausbauen, wie weit diese Zielgruppe von diesen kulturellen Eliten entfernt ist, die sich zumindest in ihrer Selbstbeschreibung an der Spitze des Fortschritts sehen. Aber auch das wäre eine Beschreibung aus dem Geist der Distinktionslogik und der Konkurrenz von Milieus.
Was man auf Bayern1 zu hören bekommt, ist wirklich großartig – und zwar deshalb, weil dieses gar nicht avantgardistische, gar nicht akademische, gar nicht subkulturell-selbstbewusste Milieu selbst gegen jede Form der Distinktion unterhalten und informiert wird. Dem Programm, den Moderatorinnen und Moderatoren von Bayern1 gelingt etwas, das man nicht geringschätzen sollte. Klar, die Wortwahl ist weit weg von den Sensibilitäten der akademischen semantischen upperclass, und wahrscheinlich sind Viele hier konservativer und weniger dran an den Diskursen der Feuilletons auf Papier und im Netz. Aber dieses Programm bietet ein Scharnier, eine Übersetzungsleistung, einen Transformationsraum für Inhalte, die in gekonnter Weise in eine Sprache und Form übersetzt werden, die genau in diesem Milieu gesprochen und verstanden wird – und das ohne auch nur die Spur eines paternalistischen Gestus, die wirklich richtigen und wichtigen Dinge nun auch für dieses Milieu in weniger hartgesottene Formen zu gießen.
Ganz im Gegenteil – wenn man diesen Sender über die Jahre gehört hat (wie gesagt, ich früher öfter als derzeit), bekommt man einen Eindruck davon, wie stark die derzeit so kontrovers diskutierten Themen davon abhängig sind, in welcher Form sie präsentiert werden. Während der sogenannten Flüchtlingskrise hat es dort mit die realistischsten Geschichten gegeben, hat man immer wieder Andockpunkte gefunden, an die Lebenswelt von Flüchtlingen anzuschließen oder eine Form für Konflikte, Unbehagen oder Unbekanntes zu finden. Es war nichts davon irgendwie pädagogisch gewollt oder mit dem Zeigefinger politischer Bildungsveranstaltungen, sondern schlicht eine Übersetzung in Sprache und Formen der Hörerinnen und Hörer, für die diese Diskurse womöglich weiter weg waren, die sich aber mit Bayern1 daran gewöhnt haben und dann auch kontrovers diskutieren konnten – am Ende stets mit einer Art Alltagsmoral, von der ich manchmal sagen würde, dass sie stabiler ist als in dem Milieu, in dem ich lebe. Wie hier über Rassismus verhandelt wurde, aber auch über die Ungewöhnlichkeit kultureller Differenz – das war zum Teil eine hohe journalistische Kunst, weit weg von Verkündigung und Zeigefinger.
Auch wie dort über die Klimafrage verhandelt wird, ist ganz anders als dort, wo die starken Diskurse stattfinden, aber auch hier wird der ganze Ernst der Frage diskutiert – und übersetzt in die Konsequenzen für konkrete Lebensformen. Das ist auf eine Weise informativ, die denjenigen Sendeformaten, in denen es explizit nur darum geht, inhaltlich letztlich in nichts nachsteht. Aber es erreicht die Leute – und ich gestehe: auch mich. Die unaufgeregte Form, in die die aufgeregten Dinge gebracht werden, hat etwas Zivilisierendes im besten Sinne.
Die Pandemie-Bewältigung ist auch ein Thema, das hier zwischen Information und Übersetzung in die Lebensformen der Leute oszillierte und auch hier Hörerinnen und Hörer merklich daran gewöhnte, mit Formulierungen, Argumenten, Einschätzungen und mit der allgegenwärtigen Unsicherheit umzugehen.
Ich bin davon überzeugt (sic!), dass man von Überzeugungen nicht nur überzeugt sein muss, sondern sich an Überzeugungen gewöhnen muss. Bayern1 gewöhnt die Menschen beim Sprechen an Formen, auf die man so nicht gekommen wäre – und das in einer Weise, die weder paternalistisch, noch pädagogisch ist, sondern die Potentiale des Milieus ausnutzt, noch die größten und abstraktesten Probleme in die Lebensweltperspektive der Hörerinnen und Hörer zu bringen.
Es sind Leute wie Markus Fahn, Ulla Müller, Susanne Rohrer oder Tilmann Schöberl (um nur die zu nennen, die mir direkt einfallen) und andere, die solche Formen hinbekommen: jenseits einer pädagogischen Attitüde einen Ram zu schaffen, in dem es gelingt, die großen Konfliktthemen der Gesellschaft in eine Form zu bringen, in der sie immer noch konfliktträchtig sind, aber, um es nun soziologisch zu sagen, kommunikativ anschlussfähig werden. Ich höre das sehr gerne, auch und gerade in diesen Zeiten, in denen es nicht mehr so einfach darum geht, ob man nun „kritisch“ oder „affirmativ“ ist, sondern in der die gesellschaftlichen Verarbeitungskapazitäten davon abhängig sind, die Themen der Welt in eine Form zu bringen, die man auch verarbeiten kann.
Manchmal denke ich, dass diese Übersetzungsleistungen mindestens so wichtig sind wie die Diskurse um die Sache selbst. Alle Kommunikation hat nicht nur einen Informationsaspekt, sondern unterscheidet sich auch in der Form der Mitteilung. Das kann man da studieren. Ich bin jedenfalls fast immer begeistert, wenn ich das höre, nein moderater, nicht begeistert, sondern zufrieden. Aber vielleicht liegt’s auch daran, dass ich schon so alt bin, dass ich mich wenigstens an die meisten Musiktitel aus den 1980ern erinnere, auch wenn das gar nicht meine Musik ist. Aber auch das spricht einen Gewöhnungsaspekt an.
Nicht dass der falsche Eindruck entsteht, als gehe es auf Bayern1 nur um die schwierigen Themen – gar nicht. Es geht um das, was Radio besonders gut kann: mitzulaufen, das Bewusstsein zu binden, an Themen angedockt zu werden, nicht zu viele Informationen zu bekommen, aber auch nicht zu wenige. Und in diesem eher traditionellen, unidirektionalen Medium gelingt es ganz offensichtlich, eine unaufgeregte Form der Augenhöhe herzustellen, die das Kunststück fertigbringt, den Dampf aus den großen Konflikten zu nehmen, sie aber gleichzeitig als die großen Fragen darzustellen. Allein für diese Mischung ist der Rundfunkbeitrag schon gut investiert. Vielleicht sollte ich doch öfter mit dem Auto fahren …