Kurz vor Neujahr
Alles wieder auf 0 – und los geht’s. Eine wilde Achterbahnfahrt steht uns 2022 bevor. Jetzt in dieser Stunde unserer Existenz sind erste Prognosen erlaubt. Deshalb haben wir uns das kommende Jahr einmal näher angesehen: Ereignisse, Sensationen, Augenblicke und Haltepunkte. Hier in ungeordneter Reihenfolge, aber umso einschneidender.
- Bundeskanzler Olaf Scholz gibt am Ostersonntag bekannt, dass er jetzt auch durch Wände gehen kann. Zum Beweis verlässt er die Pressekonferenz durch eine Nebenwand und landet in einem dunklen Aufzugschacht. Endlich unbeobachtet. Er setzt sich in eine Ecke, packt Capri-Sonne und Wurstbrot aus, drückt die Starttaste seines früheren Kassettenrekorders und summt die Melodie des alten Cindy&Bert-Schlagers „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung. Dubdidubdidubdub dub“ mit. Tränen kullern auf die Salami. Nasenrotz klebt am Strohhalm. Zeit und Raum verschwinden. Erst Wochen später fällt der Öffentlichkeit auf, dass ihr bis Pfingsten nicht aufgefallen war, dass der Kanzler verschwunden ist. Sofort kommt es zu einer groß angelegten Suchaktion. In einem Waldstück in der Nähe seiner Geburtsstadt Osnabrück wird er schließlich in einer kleinen Höhle entdeckt. Er habe die ganze Zeit an einem globalen Gesetzesentwurf gearbeitet, der die weltweite Sonntagsarbeit für Bäckereifachverkäufer*innen abschaffen solle. Im Hintergrund läuft Monica Morells „Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an, weil ein Sonntag mir meinen Glauben nahm. Liegt ein Sinn darin, ich werd es nie versteh’n, denn das Leben wird immer weitergeh’n.“
- Anfang Mai rennt Robert Habeck flennend durch Flensburg. So kann es nicht weitergehen, schluchzt er in den Ärmel seines neuen schwarzen Samtsakkos. Er blickt zurück auf schwere Zeiten. Nachdem sich im Lockdown der winterlichen Omikronwelle sein Bauch aufzublähen begann, überredete ihn BILD-TV zu einer Anti-Wampe-Diät. Mit der Erkennungsmelodie des alten Torfrock-Schlagers: „Manchmal hab ich den Verdacht, die Wampe hat mich dick gemacht. Wab-wab-wab-wab-wabbeldi-Wampi.“ Zunächst läuft alles nach Plan. Habecks Popularität steigt und steigt. Millionen von Wampianer*innen folgen ihm solidarisch. Die Kasteiung nimmt selbst in der Kirche biblische Ausmaße an. Die zehn dicksten Bischöfe und Pfarrer der Republik spenden ihre Sutanen frierenden Walrössern in der Arktis. Etwas weniger kälteempfindliche Priester und Pfarrer twittern eine weitere Torfrock-Strophe in die Welt: „Rollo guckt an sich runter und kriegt’n Schreck: Auf ma warn seine Füße weg. Tja, sagt er, da gibt‘s kein Schummeln, wenn ich ehrlich bin, tut da ‘ne Wampe bummeln.“ Im Burger King in der Nordstraße 300 kommt schließlich Roberts großer, schwacher Moment. Als er inkognito in einen Doppel Whopper beißt, tropft ein dicker Klecks Ketchup auf sein blütenweißes Torfrock-T-Shirt und mit einem rustikalen Wischer fliegt es der Lokaljournalistin Hanne Kohl in den Ausschnitt ihrer Bluse, worauf sich durch die ungelenke Bewegung die blonde Perücke in der Rindfleischbulette des Whoppers verfängt, selbige mitreißt und auf den Boden fällt. 12 Minuten später ist der Handymitschnitt des arbeitslosen Ex-PR-Chefs eines bankrotten Feuerwerkherstellers im Netz. Habeck irrt schwerbeladen durch Flensburg.
- In Berlin wagt die neue Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, das nahezu Unmögliche. Sie will die Dauer einer behördlichen Verlängerung des Personalausweises von zwei auf ein Jahr reduzieren. Zunächst sollen alle Verwaltungsbeamten per Fax die Broschüre: „Woran erkenne ich einen Personalausweis?“ erhalten. Blöderweise passt die Broschüre nicht in den Faxeinzug. Giffey ordnet unverzüglich eine Arbeitsgruppe an, die bis zum Jahresende die Bedienungsanleitung von Faxgeräten in ein allgemeinverständliches Deutsch übersetzen soll. Und um die drohende Überkomplexität zu erleichtern, soll die Arbeitsgruppe am neuen Berliner Flughafen: „Woran erkenne ich einen Fluggast?“ unterstützend mitwirken. Was wiederum den linken Koalitionspartner erzürnt, der sich fachlich-exklusiv für Fort- und Weiterbildungen am neuen Berliner Airport zuständig fühlt. Unterdessen hat Giffey alle Hände voll zu tun, die Arbeitszeiten der Berliner Ordnungsbeamt*innen von täglich netto zwei auf drei Stunden zu erhöhen. In einer medienwirksam geplanten PR-Aktion will sie eines Samstagvormittags falsch parkende Autos am Prenzlauer Berg ein Verwarnungsgeld ausstellen, wird aber schon beim zweiten Auto von einem Rentner in ein mehrstündiges Gespräch verwickelt, wie sie sich mit ihren Stöckelschuhen und engen Kleidern überhaupt auf den krummen Plattengehwegen fortbewegen will. Beide einigen sich auf eine Arbeitsgruppe, die zunächst mehr quantitativ arbeiten und die Anzahl der Platten ermitteln soll. Ein Schritt nach dem anderen, lächelt sie in die Kameras.
- Schrittweise will auch der neue Bundesgesundheitsminister, Karl Lauterbach, vorgehen. Im ARD-Sommerinterview antwortet er auf die Frage, wohin die Reise des Virus im nächsten Herbst/Winter gehen wird: „Zwei Schritte zurück, einer nach vorne. Wir dürfen nicht vergessen, woher wir kommen und wohin wir noch gehen wollen.“ Auf die Nachfrage, dass zwei Schritte zurück und einer nach vorne immer noch einen Rückschritt bedeuten, antwortet Lauterbach: „Das ist eine Frage der Perspektive. Wenn Sie von hinten draufschauen, ist der Schritt zurück eigentlich einer nach vorne.“ „Und von vorne?“, fragt die Journalistin neugierig nach. „Von vorne sind die zwei Schritte ja in der Vergangenheit erfolgt, aktuell zählt folglich nur der Schritt nach vorne.“ In diesem Augenblick klappt Lauterbach ein Augenlid nach unten. Mit dem Zeigefinger drückt er es umgehend wieder nach oben. Unterdessen beginnt das andere Auge zu tränen, weshalb der Minister auch noch die andere Hand bemühen muss. Wischend und drückend hält er beide Augen offen. Doch die Brille rutscht über den Nasenhügel in die Tiefe. Gleichzeitig fällt der linke Ellenbogen von der Tischkante, Lauterbachs Kinn schlägt auf selbiger auf, was ihn einen Finger ins Auge rammen lässt. Der andere wischt wie ein Scheibenwischer hin und her. Mit letzten Kräften sammelt der Minister alle Konzentration auf den abschließenden Satz: „Jeder Schritt könnte der letzte sein!“ Abspann.
- Die neue Co-Herausgeberin Sibylle Anderl schlägt als Thema für die Kursbuch-Herbstedition vor: „Wie sieht’s eigentlich sonst so aus?“ Armin Nassehi verweist auf einen bisher unveröffentlichten Brief von Niklas Luhmann an seine damalige Autowerkstatt: „Im So-Sein des Da-Seins liegt die Umwelt als Mitwelt.“ Er wollte damit auf den aggressiven Unterton des Mechanikers reagieren, der den Marderbiss am Motorkabel als einen mörderischen Angriff auf Luhmanns Fahrzeug interpretiert hatte. Luhmann, der in der Marderforschung bisher viel zu wenig beachtet wurde, würde damit eine ganz neue Perspektive in die Debatte bringen, so Nassehi, die womöglich als Appell für mehr Biodiversität gedeutet werden könnte. Die beiden anderen Co-Herausgeber nicken heftig zustimmend. „Ein bisserl Luhmann hat noch nie nirgends geschadet!“ Und: „Zu viel Luhmann ist aber auch nicht nichts.“
Montagsblock 152, Peter Felixberger
28. Dezember 2021