Montagsblock /151

Klar, auch der letzte Montagsblock des Jahres muss sich der Pandemie stellen – mit der bevorstehenden Dominanz der Omikron-Variante werden manche Routinen, die wir nun in der abflauenden Delta-Phase begrüßen, wieder in Frage gestellt – es werden wieder die gleichen Konflikte ausgetragen, an deren Ende dann Maßnahmen stehen, von denen man später wissen wird, dass sie früher hätten erfolgen müssen. Die Delegitimierung des Notwendigen erfolgt im Namen einer Freiheit, die wenig von den Voraussetzungen des so hohen Gutes individueller Entscheidungen weiß, dafür um so meinungsstärker und kritischer als Rächer der Entnervten auftritt – also business as usual.

Auf der Suche nach einem Grund für die Entnervung und das allgemeine Unbehagen kann vielleicht ein Argument aus der Systemtheorie beitragen, das sich mit der internen Codierung des Medizinsystems befasst. Die Idee ist die, dass die Grundunterscheidung des Medizinsystem in der Unterscheidung gesund/krank liegt, und der positive Wert sei krank, weil dieser Wert Handlungsnotwendigkeit, Zuständigkeit und vor allem die Berechtigung zur Intervention registriert. Bei der Unterscheidung handelt es sich um eine interne Unterscheidung. Es wird im System entschieden, was auf der Seite krank erscheint, was also Handlungsbedarf signalisiert.

Das hört sich zunächst fast banal an, aber der Hinweis, dass das eine systeminterne Unterscheidung ist, hat es in sich. Denn der Gebrauch der Unterscheidung muss nicht mit dem Erleben der Betroffenen konvergieren . Man kann als krank diagnostiziert werden, ohne Symptome zu bemerken oder sich krank zu fühlen; man kann sich aber auch elend fühlen oder sogar Symptome haben, ohne dass das aus medizinischer Sicht als Problem diagnostiziert würde. Und es kommt vor, dass man keine genaue Auskunft erhält, oder zu viele genaue Auskünfte, dafür aber unterschiedliche. Man muss nur versuchen, sich selbst im Internet mit Symptomen zu diagnostizieren. Ein schöner Spruch, den wir in meiner Arbeitsgruppe mal von einem älteren Arzt gehört haben, lautete: Früher musste ich meinen Patienten Diagnosen einreden, heute muss ich sie ihnen ausreden.

Was gesund ist und was krank, ist also kontingent – und eine Eigenleistung von Akteuren des Medizinsystems. Das kann man daran sehen, was pathologisiert wird und was nicht, wie sich therapieerfordernde Grenzwerte ändern und nicht zuletzt welche Kulturbedeutung Abweichungen von einer latenten Unterstellung von Gesundheit haben. Eine organisierte und evidenzbasierte Form der Krankenbehandlung ist nur möglich, weil das Medizinsystem dazu Informationen bereitstellt, über das Richtige verhandelt, Standards aufstellt und im Kontakt mit der Wissenschaft auch Begründungen bzw. Wissen vorhält. Das Ärztliche unterscheidet sich vom Medizinischen dann dadurch, dass es im Klientenkontakt weniger auf die medizinischen oder wissenschaftlichen Begründungen ankommt, sondern auf die Plausibilisierung des Angebots. Gerade deswegen gehört das Ärztliche zur klassischsten aller klassischen Professionen.

Was hat das nun mit der Pandemie zu tun? Wer medizinisch-virologisch argumentiert, hat es mit einer verschärften Form dessen zu tun, was ich oben als Verschiebung zwischen Diagnose und eigenem Erleben dargestellt habe. Die medizinische Bearbeitung der Pandemie ist nur zu einem geringen Teil die Behandlung Covid-Kranker. Es geht darüber hinaus um die Einschätzung der Relevanz des Verhaltens der Gesunden bzw. derer, die keine oder noch keine Symptome haben, auf das Infektionsgeschehen und die Organisationen des Gesundheitswesens. Das Mysteriöse ist hier, dass die Unterscheidung gesund/krank an Personen und Personengruppen andockt, die sich nicht nur nicht krank fühlen, sondern womöglich auch nie krank werden, aber dennoch zum Krankheitsgeschehen beitragen können. Das irritiert die latente Bedeutung von gesund als Nichtnotwendigkeit einer unmittelbaren medizinischen Intervention. Und deshalb erscheinen all die, die mit eher abstrakten Mitteln auf die Möglichkeit einer späteren Wirklichkeit hinweisen, Manchen als geradezu übervorsichtige Akteure, die sich nun auch der Gesunden bemächtigen wollen.

So etwas Ähnliches gibt es im Rahmen von Präventionsmedizin auch. Da werden noch gesunde Patienten und Patientinnen zur medizinischen Diagnostik geschickt, damit sie gesund bleiben – und auch hier ist der positive Wert der Unterscheidung das Kranke, das ausgeschlossen werden soll. Präventionsprogramme funktionieren am besten, wenn sie zur Routine werden, wenn sie gewissermaßen institutionalisiert werden, was die Sache von unmittelbaren Motiven der Betroffenen abkoppelt. Es wird gewissermaßen zur Gewohnheit, dass es Routinekontrollen gibt, und schon der Begriff Routine ist eine schöne routinierte Form der Entdramatisierung des Problems.

Das funktioniert in der Pandemie nicht, gerade weil die Routine fehlt und weil die Eingriffe in eine gewissermaßen „gesunde“ Gesellschaft geradezu illegitim aussehen. Man kann die Pandemie nicht direkt sehen – in Statistiken aber schon, auf (hoffentlich fehlenden) Streifen von Schnelltests oder in Bildern und Reportagen über Intensivstationen und manchmal auch in Berichten aus dem unmittelbaren Umfeld über leichte und mittlere Verläufe. Der Kontakt zu schweren Verläufen und Tod ist schon aus statistischen Gründen erheblich seltener. Und der Hinweis, dass es weniger selten wäre, wenn man die Unterscheidung gesund/krank nur anwenden würde, wenn man unmittelbare Symptome sähe, wenn man nur individuelle, manifest kranke Patientinnen und Patienten wahrnähme, kann dann getrost als die Panikmache registriert werden, die diejenigen gerne diagnostizieren, die v.a. die Frage der Einschränkung von Freizügigkeit und Kontakten an der je konkreten Gegenwärtigkeit messen. Es sind meist auch die, die gerne nur die Frage des individuellen Risikos gelten lassen wollen, in einer Welt, in der die individuelle Risikoentscheidung Gefahren und Schäden für andere provoziert – mit dem aporetischen Freiheitsbegriff der „Freiheit ist Freiheit“-Fraktion kann man das nicht abbilden. Wenigstens mit dem Blick des Medizinischen funktioniert das nicht, weil diese Zurechnung auch medizinisch nicht funktioniert (was übrigens nicht bedeutet, dass nicht auch Mediziner logisch an dem Problem scheitern können und in ihrer ärztlichen Praxis nur den isolierten einzelnen Patienten sehen).

Es wird eine Gesellschaft aus medizinischen Gründen traktiert, die sich nur abstrakt in der Unterscheidung gesund/krank wahrnehmen kann, weil die konkreten, individuell sichtbaren Krankheitszeichen fehlen. Das könnte der Grund für jene intellektuelle, moralische und politische Schwäche sein, die medizinische Diagnose eines Netzwerks von potentiellen Kranken bzw. potentiellen symptomlosen Überträgern der Krankheit überhaupt zu verstehen. Wenn die BILD-Zeitung zwei Forschern und einer Forscherin gegenüber titelt, ihnen hätte man den drohenden Lockdown oder die Einschränkungen zu Weihnachten zu verdanken, ist das einerseits ein intellektueller Offenbarungseid, andererseits aber auch exakt die Einflugschneise für jene, die sich der komplexen Gemengelage der Pandemie verweigern wollen: denn es ist in der Tat diese Forschung, die politische Entscheidungen nahelegt, weil sie auf jene Latenzen hinweist, die sonst unbeobachtet bleiben – eben: latent sind. Das Geschehen dahinter bleibt unsichtbar.

Insofern sind die Zielkonflikte zwischen Medizin und ökonomischen, familiären oder Bildungsfragen v.a. Konflikte, die mit der Unsichtbarkeit der Anwendung der Unterscheidung gesund/krank zu tun haben. Es sieht dann, wenn man entsprechend politisch interessiert ist, so aus, als seien die Einschränkungen pure Willkür oder gar bewusste Tests, wie weit man bei der Kujonierung der Bevölkerung gehen kann. Für Protest und Kritik sind solche Unterstellungen insofern eine Labsal, als sie sich die Komplexität des Problems nicht zumuten müssen. Diese Hermeneutik des Verdachts und die Unterstellung niederer Motive (Kubicki: Impfpflicht als Rache und Vergeltung an den Ungeimpften) ist auch Ausweis dessen, die Stressoren der Pandemie nicht wirklich verstanden zu haben. Es steht zu befürchten, dass die gesellschaftlichen Mechanismen der Ausnahmesituation ebenso unbegriffen bleiben wie die medizinischen und die epidemiologischen. Wenigstens können die Entnervten sehr einfach darauf hinweisen, dass ihnen niemand Eindeutigkeit und hundertprozentige Klarheit liefert. Sollte das aber jemals gelingen, müssen wir uns womöglich noch mehr Sorgen machen.