Im Montagsblock /3 haben wir es schon angedeutet: Sieht man sich öffentliche Debatten an, erkennt man einerseits ein schnell getaktetes Gewimmel von Verlautbarungen, Meinungen, Kommunikationspartikeln und Stimmen. Es sieht aus, als habe alles einen hohen Überraschungswert – und die Mediensoziologie bestätigt, dass die Währung der öffentlichen Medien das Neue sei, das Überraschende, das Unbekannte, der besondere Informationswert. Danach dürfte schon die erste Wiederholung des Bekannten nicht öffentlichkeits- und medientauglich sein. Genau besehen aber stimmt das nicht, denn öffentliche Debatten scheinen relativ leicht vorhersehbar zu sein. Die meisten Sprecher scheinen ihre Rollen gut zu spielen.
Es ist fast vorhersagbar, wer was wann in komplementärer Weise zur Debatte beiträgt und wie sich dadurch der Eindruck verfestigt, als folgte öffentliche Kommunikation einem Drehbuch, das freilich nirgendwo gedruckt vorliegt, das niemand geschrieben hat und über dessen Einhaltung kein Regisseur oder gar Intendant wacht. Die These ist keine Verschwörungstheorie. Im Gegenteil: Auch Verschwörungstheorien gehören zu jenen Rollen, die gerne gespielt werden. Am vergangenen Sonntag hat sich 9/11 das 15. Mal gejährt und bietet eines der beliebtesten Motive für Verschwörungstheorien. Ohne Sachprüfung dürfte der Kreis der Verdächtigen vom Weltjudentum über den Mossad bis zur CIA oder Außeriridischen reichen – von parzenhaften Schicksalsgestalten ganz zu schweigen.
Dass alle ihre Rollen spielen und dass das fast nicht überraschen kann – ist vielleicht keine überraschende Einsicht. Aber sie war Peter Felixberger und mir Einsicht genug, darüber ein kleines Buch zu schreiben, das diese Woche erscheint: Deutschland. Ein Drehbuch heißt es und rekonstruiert sechs Debatten: die Flüchtlingsfrage, Debatten um den Sozialstaat und um Verteilungsgerechtigkeit, um Big Data, um die Veränderung von Führungskonzepten und über den ärztlich assistierten Suizid. Es kommen die wichtigsten öffentlichen Sprecher zu Wort – aber wir nennen keine Namen, denn Namen unterstellen mehr Variationsmöglichkeiten, als tatsächlich da sind, weil sie als Adressen so tun, als könne man den Namensträger bitten, es anders zu tun. Die jeweilige Position, also das „Was“, scheint Vorrang vor dem Positionsträger, also vor dem „Wer“, zu haben.
Das Buch ist einer der drei Bände der in dieser Woche startenden kursbuch.edition. Die kursbuch.edition ist eine kleine, aber feine Buch-Edition, herausgegeben vom Verleger Sven Murmann und den beiden Kursbuch-Herausgebern. Sie verfolgt die Kursbuch-Programmatik der Perspektivenverschiebung und der überraschenden Verbindungen. Das erste Programm startet mit unserem Drehbuch sowie mit einem Band von Karl Bruckmaier und dem Fotografen Wilfried Petzi mit dem Titel OBI oder das Streben nach Glück, in dem eine Ästhetik des Alltäglichen rekonstruiert wird, die sich jenseits der ästhetischen Diskurse aus Architektur und Kunstgeschichte selbst genügen. Das Ergebnis: Aus Pop wurde Waschbeton. Der dritte Band im Bunde stammt von Ernst Mohr und trägt den Titel Punkökonomie. Der Volkswirt Mohr nähert sich der Sache auch eher von den Rändern her, denn das, was wir Mainstream nennen, kann es nur geben, wenn es jenseits dessen einen Rand oder Ränder gibt, die den Mainstream nicht nur logisch, sondern auch inhaltlich ermöglichen.
All drei Bücher eint genau dies: das Alltägliche – hier: die Provinz, den Markt, die Öffentlichkeit – aus einer anderen als der Zentralperspektive her zu betrachten und diese Perspektivenverschiebung zu nutzen, etwas über die angeblichen Zentralperspektiven zu lernen. Das ist exakt das, was die Kursbuch-Programmatik ausmacht.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /15, 12. September 2016
Das aktuelle Kursbuch 187 „Welt verändern“ ist am 02. September 2016 erschienen.
Die Bücher der kursbuch.edition sind vorbestellbar und werden ab dem 15. September ausgeliefert.
Die Bücher sind im Shop erhältlich.