Endlich wieder ein Montagsblock mit ungerader Ordnungsnummer – der nächste wird nach meinen ersten Hochrechnungen schon wieder gerade. Aber es wird schon gehen, man muss irgendwie vorbauen – das, liebe Leserin, lieber Leser, war eine nicht ganz gelungene Überleitung zum Thema. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen Montagsblock über Kulinarisches oder übers Essen geschrieben zu haben, aber im Folgenden soll es nun darum gehen. Ich habe letztens nach sehr langer Zeit wieder Schüttelbrot gegessen – ein sehr hart gebackenes, würziges Fladenbrot, das vor allem aus Südtirol stammt und dort weniger aus der gediegenen Kulinarik in den saftigen und üppigen Tälern, sondern eher aus der am Mangel geschulten Bergökonomie. Südtirol ist heute vor der Lombardei die ökonomisch erfolgreichste Region Italiens, und das nicht nur in landwirtschaftlichen oder touristischen Branchen. Das Schüttelbrot freilich gehört nicht zu den Faktoren, die das Alto Adige so erfolgreich gemacht haben – es verweist eher darauf, dass diese Region historisch eher zu den ärmsten gehörte. Das Schüttelbrot verweist auf diese Spannung – eine heute fast luxuriöse Speise, deren Funktion aber Mangelbewirtschaftung und die Überwindung von Durststrecken war. Mit dem Schüttelbrot konnte man vorbauen (um die Überleitung nicht sang- und klanglos ins Leere laufen zu lassen).
Das Schüttelbrot erinnerte mich an Zeiten, in denen ich als Jugendlicher sehr oft und lange in Südtirol war. Ohnehin scheint es so zu sein, dass der olfaktorische und der Geschmackssinn die biografisch kontinuierlichsten Formen des Erinnerns darstellen. Das zeigt sich übrigens sehr stark in migrantischen Milieus, in denen die Zubereitung, der Geruch und der Kontext von Speisen eine ganz besondere Bedeutung haben, Räume und Erfahrungen miteinander zu verbinden. Der Biss in das Schüttelbrot vor ein paar Tagen jedenfalls hat es mir angetan. Im Vergleich zum Schüttelbrot ist ein handelsübliches Knäckebrot geradezu locker und saftig. Das Schüttelbrot ist widerständig, man muss Kraft aufwenden, es ist hart, und die Bruchstellen sind unberechenbar, was zur Folge hat, dass es folgenreich krümelt. Es ist nichts für den distinguierten bürgerlichen Esstisch, sondern für eine andere Umwelt.
Der Biss in das Schüttelbrot, das ich mit einem strengen Käse, mit Zwiebeln und etwas frisch geriebenem Meerrettich gegessen habe, war so anders als übliche kulinarische Genüsse, dass es mich ein paar Tage begleitet hat. Es war völlig anders – obwohl überhaupt keine exotischen oder besonders voraussetzungsreichen Zutaten darin sind. Es besteht aus Roggenmehl und Hefe, allenfalls die Gewürze (Kümmel, Fenchel, Koriander u.a.) schmecken raffiniert, sind aber weder exotisch, noch haben sie eine irgendwie distinktive Wirkung.
Aber was ist das Besondere? Wahrscheinlich ist es der Kontext, der etwas mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in der nördlichsten italienischen Provinz zu tun hat. Erzählt wird die Geschichte des Schüttelbrotes als eine Geschichte der Nichtverfügbarkeit von Waren. Das Schüttelbrot ist ein konserviertes Brot. Es kann nicht hart werden, weil es schon hart ist. In Südtirol gibt es zum Schüttelbrot gerne Käse oder auch Speck – auch beides Lebensmittel, die irgendwie auf Dauer gestellt sind. Sie halten lange, sie entziehen sich den Routinen der Frische und des täglichen Angebots, sie beinhalten Zukunftsperspektiven, weil sie letztlich von Infrastruktur unabhängig machen. Während der Corona-Krise ist es deutlich geworden, wie sehr die alltägliche Versorgung in einer Gesellschaft wie unserer abhängig ist von einer Just-in-time-Logistik, in der es vor allem zeitliche und sachliche Schnittstellen und Handlungsketten sind, die ineinandergreifen müssen, damit wir morgens eine Käsesemmel oder ein Müsli mit Joghurt essen können und mittags Nudeln mit einer scharfen Arrabiata-Sauce. Und selbst wenn diese Produkte zumeist haltbar sind, Nudeln ohnehin, die Tomatensoße aus dem Glas, und Müsli kann jahrelang in der Tüte ausharren, ist die tägliche Versorgung eine tägliche Versorgung. Als systemrelevant haben wir die (zumeist) Frauen an den Kassen wahrgenommen, aber systemrelevant war offensichtlich auch die Logistik dahinter – eine auf permanente Bewegung angewiesene Form der proportional aufeinander bezogenen Wertschöpfungs-, Transport- und Zahlungsketten.
Ich habe auch das Schüttelbrot in einem solchen Laden gekauft, wahrscheinlich ist es frisch angeliefert worden, was ein interessanter Anachronismus ist, weil das Schüttelbrot ja nicht wie die Tomatensauce im Glas für Transport und Lagerung und damit Verfügbarkeit haltbar gemacht worden ist, sondern das Schüttelbrot ist in seiner Substanz selbst eine Form der Haltbarkeit. Es muss lange halten, länger als die Frequenz, in einer armen bäuerlichen Region und in kalten Monaten an lieferbare Güter zu kommen.
Im Schüttelbrot bildet sich letztlich die Gesellschaft ab, in der wir leben – und die schöne ästhetische Widersprüchlichkeit, dass es heute aus prinzipiellen Gründen ein Haltbarkeitsdatum hat, hat etwas Ironisches – auch übrigens, dass ich mir immer wieder neues kaufe – nicht frisches, wohlgemerkt. Zum Schüttelbrot passt übrigens ein kalter Gewürztraminer, auch aus Südtirol. Habe ich noch im Keller. Wein ist auch so ein Zeitspeicher, aber das vielleicht in einem späteren Montagblock, vielleicht wieder in einem ungeraden – mal sehen.
Armin Nassehi
Montagsblock /145, 7. November 2021