Der amerikanische Soziologe Eric Leifer widmete sich vor Jahren der Frage, ob Schachgroßmeister mehr Züge ihres Gegners im Voraus berechnen können als der Laie. Deshalb befragte er einige von ihnen wie folgt: »Sagt mal, wie viele Züge im Vorhinein könnt ihr tatsächlich berechnen?« Die Antwort verblüffte ihn: »Null bis eins, würden wir sagen.« Folgefrage: »Und worüber denkt ihr so lange nach, wenn das Ergebnis nicht darin besteht, die absehbaren Züge des Gegners zu berechnen?« Die nächste Antwort verblüffte ihn erneut: »Wir denken darüber nach, wie wir ein möglichst vielfältiges Spielfeld aufbauen können, mit dem Gegner zusammen, um im Nachhinein Fehler korrigieren zu können.« Tja, die Welt bietet offenbar im besten Fall nur vorübergehende Situationen, in die man seine Entscheidungen jeweils einklinken kann. Oder, wie wir in Bayern sagen: Visionen in komplexen Welten sind wie Dampfnudeln, die nicht aufgehen.
Ich bin mir fast sicher: Schachgroßmeister mögen keine Dampfnudeln. Sie sind entscheidungstheoretisch im nüchternen Nahraum verankert. Der nächste, folgerichtige Schritt interessiert sie mehr als das große Finale von Sinn und Zweck des Spiels. Damit sind sie eng verwandt mit Managern. Diese wollen im nächsten Schritt exklusiv einen Kunden finden, der ihnen im Austausch für ihr Produkt Geld gibt, und zwar so viel, dass etwas übrigbleibt. Wohin dieser Profit dann fließt, bleibt eine Geheimwissenschaft für sich. Doch: Surprise, Surprise! Die Frage, welche höheren Zwecke Wirtschaft sonst noch verfolgen könnte, wird in der Welt der Unternehmen neuerdings aufreizend offen geführt. Purpose. Wirtschaft soll Teil einer besseren, nachhaltigen Gesellschaft werden. Mithelfen, die drängendsten Probleme der Menschheit zu lösen.
Blick zurück: Der Zweck eines Unternehmens bezog sich bisher auf den wirtschaftlichen Erfolg, es ging um Gewinn, Wachstum und Profit. Im Gegensatz geht der Sinn dem Warum auf den Grund, fragt nach dem Wozu einer Existenzberechtigung oder warum das Unternehmen überhaupt da ist. Auf diesem Feld geht es um andere Fragen: Was leistet das Unternehmen für die Gesellschaft? Wofür brauchen wir es? Was ist das Besondere, was ist das Einzigartige? Der Philosoph Ernst Tugendhat spricht vom „Endzweck“, einer Art letzter Grund, der alle Mittel und Zwecke umfasst, vergleichbar mit dem letzten Warum. Der Endzweck eines Unternehmens wäre theoretisch die Bewältigung jedweder Komplexität, die das Unternehmen umgibt. Praktisch ist das allerdings nie erreichbar, weder mit Effizienz noch mit Sinnstiftung.
Blick nach vorne zum nächsten, folgerichtigen Schritt. Da fiel mir gerade die Meldung auf, dass sich der britische-niederländische Ölkonzern Royal Dutch Shell neue Klimaziele setzt. Leider handelt es sich dabei um eine Dampfnudel ohne richtigen Dampf. Zwar wird in der Unternehmenswelt derzeit überall der Ofen angeheizt, bis 2030/40/50 klimaneutral werden zu wollen. Und jeder will mitmachen. Und Shell hat laut eigener Aussage selbst auch die „Energie zur Wende“. Allerdings hatte im Mai ein niederländisches Gericht Shell dazu verdonnert, alle seine Emissionen, einschließlich die aus der Verbrennung seiner Produkte durch Kunden, bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren. Weshalb ein neuer Investor anregte, das Unternehmen aufzuspalten: in fossile Brennstoffe sowie erneuerbare Energien. Die alte Welt abwickeln, das Neue aufbauen. Das würde aber, so die Shell-Finanzchefin in sofortiger Habacht-Stellung, im wirklichen Leben nicht funktionieren. Und der Vorstandschef schob hinterher, die alte Welt sei schlüssig und werde von allen gut verstanden. Der Investor, ein amerikanischer Hedgefonds, hingegen sieht „Verbesserungen auf der ganzen Linie“. Worauf die Finanzchefin erwiderte: „Wenn es um wirkliche Lösungen geht, denke ich, dass das nicht funktioniert.“ So kann man Dampf ablassen, bevor er entsteht.
Der Montagsblock ist ein lernfähiges Medium. Wir halten fest: Der Endzweck von Shell ist der Gewinn (im 3. Quartal 2021 übrigens 4,13 Milliarden Dollar). Die Vision als Unternehmen, das sich einem höheren Zweck wie Klimawandel oder Energiewende verpflichtet fühlt, bleibt bei Shell vorerst als Dampfnudel im Ofen. Die Shell-Manager wollen sich nur auf den nächsten Zug konzentrieren. Die Komplexität eines höheren Sinns ihres Tuns wird in die Zukunft delegiert: 2030/40/50. Die Fehlerbearbeitung ihres profitexklusiven Tuns überlässt Shell deshalb lieber kommenden Kohorten.
Wir geben ab zu den Schachspielern unter den Industriellen auf den Seychellen!