Montagsblock /143

Ist die gegenwärtige Weltraumbegeisterung auch ein Anzeichen eskapistischer Tendenzen? Fasziniert der neuerliche Aufbruchsgeist ins All auch deshalb, weil er erlaubt, den Blick weit nach oben und damit weg von irdischen Problemen zu richten? In jedem Fall ist es eindrucksvoll, wie viele der im vergangenen Jahrhundert entwickelten futuristische Visionen sich derzeit zu realisieren scheinen: Weltraumtourismus, Weltraumhotels, private Raumstationen, eine Mondbasis. Wenn der deutsche Astronaut Matthias Maurer voraussichtlich am kommenden Sonntagmorgen in der “Crew-Dragon” Raumkapsel des Unternehmens SpaceX zur Internationalen Raumstation ISS starten wird, klingt das fast im Vergleich zu diesen Projekten schon beinahe konventionell: Die seit 2000 bewohnte und mittlerweile zunehmend altersschwache ISS verkörpert schließlich eine Epoche der Raumfahrt, in der rund 400 Kilometer Abstand zur Erde als ausreichend weit entfernt angesehen wurden — für Experimente in der Mikrogravitation reicht das, auf dem Mond war man schon, Menschen noch tiefer ins All zu schicken, erschien nicht wirklich als dringlich. Das hat sich mittlerweile geändert. Es scheint klar: Der Mensch muss zurück ins All, neue (Lebens?)-Räume erschließen. Dazu haben nicht zuletzt die Weltraummilliardäre Elon Musk und Jeff Bezos beigetragen, die der Menschheit Fluchtstätten anderswo im Sonnensystem einrichten wollen.

Aber ist das überhaupt sinnvoll? Es ist eine seltsame Eigenschaft der Raumfahrt, dass sie uns, je weiter wir uns von der Erde entfernen, desto stärker doch auch wieder den Blick auf uns selbst und die Erde aufdrängt. Man kennt das vom Overview-Effekt, der besagt, dass der Blick aus dem All auf unseren Planeten den Raumfahrern eine ganz neue Erfahrung der Verbundenheit allen Lebens untereinander und mit dem Heimatplaneten eröffnet. Die Reflexion des derzeitigen Ausbaus astronautischer Raumfahrt führt in ähnlicher Weise immer wieder auf den Menschen und auch die Erde zurück. So zeigt sich in der technischen Umsetzung weiterführender Missionen, was für ein fast absurd wenig robustes Wesen der Mensch ist. Er braucht ständig Sauerstoff, Wasser, muss ganz bestimmte Nährstoffe zu sich nehmen, bekommt schnell Krebs wenn er zu lange kosmischer Strahlung ausgesetzt ist, hat Probleme, seinen Körper ohne Gravitation funktionsfähig zu halten (zu viel Gravitation oder Beschleunigung ist aber auch nicht gut), zudem lebt er für weite kosmische Reisen insgesamt doch auch relativ kurz. Für die Planung weiter Missionen ist das alles recht ungünstig. Die Erde ist und bleibt der einzige für uns Menschen wirklich geeignete Lebensraum, das kann man gar nicht oft genug feststellen.

Zudem neigt der Mensch dazu, alte Probleme in neue Räume mitzunehmen. Auf dem Mond sind etwa viele Dutzend Tonnen Schrott und Müll zurückgeblieben: Alte Abstiegsstufen, Kameras, kaputte Experimente, Abfallsäcke. Das Müllproblem im Erdorbit könnte im schlimmsten Fall irgendwann die Nutzung von Satelliten und die Raumfahrt selbst stark einschränken oder sogar ganz unmöglich machen. Hier Zuständigkeiten zu klären ist noch schwieriger als auf der Erde. Das Weltraumrecht, formuliert im Outer Space Treaty von 1967, hatte beispielsweise noch nicht im Blick, dass irgendwann private Unternehmen neben den Nationen zu relevanten Akteuren aufsteigen könnten. Allein die Frage, wer in welcher Form welche Rohstoffe etwa auf dem Mond oder auf Asteroiden verwerten darf, wird wohl noch einige Weltraumjuristen beschäftigen.

Bereits jetzt hätten die Juristen ein paar Dinge nachzuarbeiten: Die Erkenntnis, dass plötzlich eine große Zahl neuer Satelliten (Zehntausende zusätzliche sollen es noch werden!) unseren Nachthimmel als helle Pünktchen durchwuselt, hat die betroffene Öffentlichkeit eher überraschend getroffen. Und auch im Miteinander der Nationen hat sich wieder etwas geändert: Während die ISS noch Symbolprojekt für eine internationale, friedliche, nichtkommerzielle Nutzung des Weltraums war, haben nun die Chinesen ihre eigene Raumstation, die Russen und Inder planen ebenfalls eigene Stationen. Die neu aufgeflammte Raumfahrteuphorie bringt bisher leider nicht unbedingt nur das Beste im Menschen zutage. Frei nach Blumenberg: Der Mensch sucht im All das Unbekannte und findet doch immer nur wieder sich selbst. Der Eskapismus funktioniert leider nur oberflächlich.

Persönliche Schlussbemerkung: Ich muss trotzdem zugeben, dass ich mich auf den Start von Maurer am Sonntag freue, dass ich die Entwicklung von Weltraumhotels im Stil von Stanley Kubrick spannend finde und es kaum erwarten kann, dass es eine Mondstation gibt. Aber auch das ist vermutlich eine sehr charakteristisch menschliche Eigenschaft: Dass Rationalität und schwärmerische Begeisterung gerne auch im Widerstreit stehen.

Sibylle Anderl

Montagsblock /143, 25. Oktober 2021