Montagsblock /142

Dies ist für eine Premiere. Ich schreibe das erste Mal einen Montagsblock mit einer geraden Ordnungszahl – der Grund liegt in der Aufnahme von Sibylle Anderl in die Herausgeberschaft des Kursbuchs, worüber ich mich sehr freue. Man muss nicht der Zahlenmystik verfallen sein, um zwischen geraden und ungeraden Zahlen einen kategorialen Unterschied zu markieren. Die Eins ist noch keine Zahl, weil sie für Einheit steht, für Unteilbarkeit, also Individualität. Eine Einheit muss nicht gezählt werden, weil es kein gleiches oder gleichartiges Pendant dazu gibt. Die Eins steht wie eine Eins. Deshalb ist nicht die Eins die kleinste Zahl, sondern die Zwei. Sie unterscheidet Unterscheidbares. Wir pflegen solche Dinge zu zählen, die genügend Gemeinsamkeit haben, aber je für sich Eins sind, sich also Unterscheiden, und wenn es nur ein Unterschied im Hinblick auf die Identifizierbarkeit als eine Einheit macht. Kippt man zwei Mengen Wassers in ein Glas, hat man nicht zwei Wasser, legt man aber einen großen und einen kleinen Apfel in eine Schale, liegen darin zwei Äpfel, selbst wenn diese sich in Farbe, Größe, Geruch, Geschmack oder sonstwie unterscheiden. Sie können nur gezählt werden, wenn sie als je eine Einheit identifiziert werden. Dass der Akt der Identifikation ein Akt eines Beobachters ist, kann man daran erkennen, dass man im Falle des Wasser durchaus die Wasser-Moleküle zählen könnte, aber so erscheint Wasser uns in der Alltagsbeobachtung nicht.

Das Schöne an der Zwei ist die darin vorgestellte Parität. Die Zwei ist teilbar – sie vereinigt, sie kann sogar Gegensätze vereinigen, soweit nur die Antipoden sich so ähnlich sind, dass sie zählbar werden. Parität beginnt letztlich bei Binarität – also im Akt des Unterscheidens. Es enthält die ganze Welt – ihre Gegensätze und ihre Versöhnung, den Konflikt und den Konsens, die Möglichkeit von Ungleichheit und Gleichheit. Fast alles lässt sich in solchen Unterscheidungen ausdrücken – schwarz/weiß, hell/dunkel, kalt/warm, Tag/Nacht, Gott/Mensch, Himmel/Erde, Mann/Frau, Land/Wasser, links/rechts, Yin/Yang, schön/hässlich, gut/böse, gerade/ungerade et ad infinitum. Paritäten freilich sind riskante Formen, weil sie totalitär werden können, zumindest neigen sie dazu, sich trotz Konflikt und Unversöhnlichkeit zu totalisieren – oder gerade deswegen? Wer nur gut und böse kennt, sieht nichts anderes, kann damit aber alles sehen.

Logischerweise ist die Drei die kleinste ungerade Zahl. Die dritte Position ist diejenige Position, die das Binäre sprengt oder vereint – zumindest beobachtet. Man kann an die christliche Trinität denken, aber auch an die Anweisung der klassischen Logik tertium non datur. Die Anweisung verweist darauf, dass ein logischer Widerspruch innerhalb einer etablierten Unterscheidung nicht auflösbar ist – das tertium non datur ist schon ein Hinweis darauf, dass man Binaritäten beobachten kann, aus der Position eines Dritten.

Die mit der Drei etablierte ungerade Form ist fast notwendigerweise asymmetrisch und könnte für so etwas wie Freiheit stehen, zumindest für Kontingenz, also dafür, dass man aus allzu etablierten Bahnen ausbrechen kann – und wenn es nur die Banalität ist, dass ich mich daran gewöhnt habe, dass meine Montagsblocks eine ungerade Ordnungszahl haben. Durch den Eintritt einer Dritten ist die deutliche Unterscheidung gerade (Felixberger) versus ungerade (me) asymmetrisiert worden und bedeutet auf einmal etwas anderes. Das macht den Reiz einer dritten Herausgeberin aus – aber das macht auch den Reiz des Dritten überhaupt aus. Der Dritte ist der Beobachter. Er geht nicht in der Binarität der Zweien auf, sondern fügt dieser etwas hinzu, und wenn es nur der Hinweis darauf ist, wie sehr der Blick auf die Dinge vom Blick abhängt.

Das fiel mir ein, als ich nach der Nummer des heutigen Montagsblocks suchte und ganz erschrocken war, dass ich auf Peter Felixbergers Seite wechseln musst, nur um festzustellen, dass das nicht mehr stimmt. Aber es gibt eine andere Dreiheit, die derzeit Aufmerksamkeit verdient hat. Die Sondierungen der künftigen Regierungskoalition sind abgeschlossen – man wird wohl dieser Tage in Koalitionsverhandlungen eintreten. Ich will die Dinge hier nicht inhaltlich und politisch diskutieren – Vieles ist erwartbar, Manches sehr erfreulich. Interessanter ist nicht das Papier, sondern die Bedingung seines Gelingens. Auf den ersten Blick sieht es vielleicht so aus, dass es sehr schwierig ist, nun unter drei Partnern zu verhandeln. Das erhöht die Komplexität der Fragestellungen, es mindert den Einfluss Einzelner, und es erzeugt schwierigere Bedingungen für Kompromisse. Aber es sieht eher so aus, als könne womöglich die Trinität der Konstellation die Dinge vereinfacht haben. Bei drei Partnern ist es unwahrscheinlicher, dass man sich in einem binären Konflikt einrichtet, der sich durch Stabilisierung verselbständigt. Das liegt schon daran, dass sich die Konflikt- und Dissenslinien verschieben. Bei drei ungleichen Partnern ist es möglich, dass man durch wechselnde Konstellationen aus der Defensive in die Offensive gelangt, dass sich Kompromisse über dritte Lösungen rechtfertigen lassen, dass Gemeinsamkeiten nicht von allen drei geteilt werden müssen, dass sich aber binäre Konflikte eben verschieben.

Liest man das Sondierungspapier, kann man es aus den drei roten, gelben und grünen Perspektiven (um in der Ampellogik zu bleiben) je unterschiedlich lesen – oder man wagt einen Blick auf die Gesamtkonstellation und wird feststellen, dass es am Ende schwerfällt, genau zu sagen, wer sich nun eigentlich durchgesetzt hat. Das kann auch latent gehalten werden, weil das in einer Dreierkonstellation logisch kaum darstellbar ist – außer wenn sich ein Partner stabil gegen die beiden anderen gestellt hätte. Man sieht nun, wie klug es war, dass Grüne und FDP zunächst zu zweit miteinander geredet (und mit starken Bildern posiert) haben – und die Gegensätze waren nicht so tragisch, weil ja noch gar keine Entscheidungen getroffen werden konnten (was den Bildern zugute kam). Aber man konnte sich an unterschiedliche Unterscheidungen gewöhnen. Manche Kommentare sahen damals schon so aus, Grüne und Gelbe machten unter sich aus, wer unter ihnen Kanzler wird. Aber das ist schon wieder binär gedacht – in einer Logik kaum entfaltbarer Konflikt- und Konsenslogik. Mit dem Eintritt der SPD in die Verhandlungen hat sich das geändert – und die Logik von Koch und Kellner (das alte Schröder-Theorem) konnte gar nicht erst greifen, weil es für die anderen Beteiligten stets einen Ausweg gab.

Wo Kröten geschluckt werden mussten, kann das durch den Hinweis darauf gemildert werden, dass man die Kröten unter unterschiedlichen Hinsichten verteilt – und dann ist es auch möglich, einem Konsens zuzustimmen, den man vielleicht viel weniger hätte teilen können, wenn es auf der anderen Seite nur einen Nutznießer der Kröte gegeben hätte. Was in dieser Konstellation möglich ist, ist vielleicht eine Aufstellung, in der sich binäre Konflikte immer wieder neu gruppieren und damit eine dynamische Stabilität erzeugen, die gerade nicht auf der stationären Logik des Zweifachen beruht, sondern auf der ungeraden Form der nur asymmetrischen Teilbarkeit. Eine dynamische Asymmetrie ist eine große Chance. Vollständig symmetrische Verhältnisse sind informationslos und träge. Vollständig und stabil asymmetrische Verhältnisse laufen auf stabile Herrschaftsformen hinaus und kennen keinen Anreiz für einen zweiten oder dritten Blick. Die dynamische Asymmetrie wechselnder Konfliktlinien dagegen zwingt nicht nur zur genauen Beobachtung, sondern auch dazu, dies immer noch einmal mitzusehen. Das entfaltet ohne Zweifel eine erhebliche Attraktivität.

Zum Schluss bemerkt: Dass sowohl Friedrich Merz als auch der unterlegene Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, am vergangenen Wochenende lobende Worte für das Sondierungspapier fanden, ist sicher auch das Ergebnis dieser Verhandlungen, die man beim besten Willen nicht als die Durchsetzung eines Konzepts gegen ein anderes lesen kann, sondern eben als das Ergebnis einer intelligenteren Form der Berücksichtigung von Hinsichten bei der Bewältigung von Konflikten. Die beiden Unionsbeobachter dürften sich darüber erschreckt haben, dass ihr Wahlkampf fast ausschließlich auf stabile Binaritäten und damit auf einen geradezu radikalen Verzicht auf die Selbstkorrektur eigener Beobachtungen gesetzt hat. Man wird gespannt sein, ob daraus eine intelligente Opposition werden kann – oder nur die binäre Form selbst.

Armin Nassehi

Montagsblock /142, 18. Oktober 2021