Der amerikanische Demokratietheoretiker John Rawls ist ein guter Ratgeber, wenn es demokratietheoretisch kompliziert wird. Nehmen wir die laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Rot, Grün und Gelb? Verkürzt gesagt (wenn sich der Rauch des täglichen TV-Schwadronierens lichtet) kommt es gerade zu einer dreiseitigen Grenzziehung. Jeder positioniert sich, setzt Grenzen oder rote Linien, die der oder die andere nicht überschreiten darf. Schuldenbremse, Mindestlohn, Steuererhöhung, Klimaschutz. In anderen Worten: Jede(r) erstellt eine vernünftige, begründbare Schutzzone eigener Wahrheiten und Letztüberzeugungen. Was zur Folge hat: Wer seine Eigenlogik nur einzugrenzen weiß, grenzt die der anderen aus. Das Ende vom Lied: Die SPD bewahrt die soziale Gerechtigkeit (Mindestlohn), die FDP die Leistungsgerechtigkeit (keine Steuererhöhung) und die Grünen die Chancengerechtigkeit (Garantie einer enkelfähigen Zukunft). Das Motto: Bleibt nur alle, wo Ihr seid!
Jetzt kommt Rawls ins Spiel, der als feinsinniger Begründer des politischen Liberalismus der Überzeugung ist: Nur wenn sich die Koalitionäre gegenseitig als vernünftig anerkennen, sind alle in der Lage, miteinander zu kooperieren. Grenzüberschreitung! Die Kollegin Martha C. Nussbaum ergänzt, dass „die Vertragsparteien in etwa über die gleiche Macht und die gleichen Fähigkeiten verfügen, und die damit zusammenhängende Annahme, dass sie mit der Entscheidung für Kooperation anstelle von Nicht-Kooperation das Ziel gegenseitiger Ziele verfolgen“.
Wir stehen mitten in der Petersilie. Einerseits steckt man in Koalitionsverhandlungen seine je eigenen Vernunftclaims ab, andererseits soll man die Vernunft der anderen Claims bei gleicher Machtverteilung anerkennen. Doch so einfach funktioniert das Demokratiedilemma nicht. Um es zu überwinden, hat die politische Theorie das Prinzip des gegenseitigen Vorteils erfunden. Es besteht rein praktisch darin, dass man so lange miteinander verhandelt, bis jede(r) einen Vorteil für seine Vernunftzone schlagen kann. Es geht indes, so Rawls, darum, die Gesellschaft dahinter so lange zu ordnen, bis sie als wieder wohlgeordnet gilt. An dieser Stelle gibt es zwei Möglichkeiten: Man verhandelt, wie einst die eiserne Angela Merkel, so lange, bis alle Männer unter dem Tisch liegen und schlafen. Oder man fängt an, sich in eine fiktive Diskurssituation zu begeben, in der bestimmte Grundregeln der Achtsamkeit zu respektieren sind.
Schritt 1: Wir blenden das Mehr oder Weniger des Wahlergebnisses kurz aus, um Schritt 2 auf höherer, kooperativer Ebene zu einer gemeinsamen Programmatik zu kommen. Als vom Volk legitimierte Vertreter treten die Drei in eine fiktive Verhandlungssituation, die sie vorübergehend zu Gleichen und Freien macht. Die gemeinsame Sehnsucht nach Ordnung, Stabilität und Gleichgewicht garantiert eine dreiseitige Gewinnbeziehung der Erörterungslagen.
Idealerweise, so John Rawls, werden die Drei dafür hinter einen Schleier des Nichtwissens gesetzt, ein fiktiver Urzustand, in der dieses Kleinkollektiv zu einer fairen Übereinkunft kommt. Hinter diesem Schleier ist weder die soziale Position des Einzelnen bekannt noch sein „Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder sein Status; ebenso wenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zu Optimismus und Pessimismus.“ Keiner zeigt mit dem Finger auf die Fehler der anderen. Keine Anna-Lena mit Bedeutungshybris, kein Christian mit Deutungshybris und kein Olaf mit Tungshybris.
Ja, und wo bleibt die Macht? Der Olaf hat doch viel mehr Wählerstimmen und politische Gestaltungsmacht? Darf keine Rolle spielen, antwortet Rawls. Es gehe nicht darum, wer genau die Macht innehabe, sondern wie sie theoretisch so verteilt und gleichzeitig wieder vereinheitlicht wird, dass jeder daran partizipiert und parallel die Vorstellung verinnerlicht, sowohl mitzuregieren als auch regiert zu werden. Man übe also einerseits Macht aus und werde andererseits von der Macht beherrscht.
Jetzt kommt etwas Erleichterung auf. Die eigentliche Demut besteht offenbar darin, seine eigene Macht auf die Schulter der anderen zu verteilen, bei gleichzeitig reziproker Annahme. Man schließt aus dieser Vorgabe einen Vertrag mit- und füreinander, und zwar in einer Ausgangssituation, in der alle ihre eigene Macht aufgeben. Vertragstheoretisch bedeutet das, so der Kollege Nassehi, „zu versöhnen, Verzicht aus freien Stücken zu leisten“. Und da wir ja hinter dem Schleier des Nichtwissens die kleinen Persönlichkeits- und Wissensdefizite der anderen ganz bewusst ausklammern, haben wir vorne mehr Möglichkeiten, eine stabile, ausbalancierte Regierungsbildung im Sinne einer wohlgeordneten Gesellschaft vorzunehmen.
Ja, und wo bleiben die Medien? Die müssen leider kurz mal draußen bleiben, weil sie in diesem neuen Spiel des gegenseitigen Vorteils nicht so viel Erfahrung haben. Keine Sorge: Kurz nach der Regierungsbildung dürfen sie wieder mitspielen, denn wir wissen: Macht ist letztlich erst Macht, wenn die Medien sie anerkennen. Unterdessen verschmilzt die Einzelvernunft der Drei zu einer Kollektivvernunft im Koalitionspapier, an der jeder einen gleichen Anteil hat.
Wenn das keine richtige Demokratie ist? Menschen, die nicht zusammengehören, finden zueinander.
Peter Felixberger
Montagsblock /141, 11. Oktober 2021