Achtung — neue Montagsblock-Autorin!
Dass etwas eine große Ehre ist, ist ja durchaus schnell dahingesagt und kann vieles bedeuten: von einer unreflektierten Bereitschaft zur Erfüllung sozialer Kommunikationsnormen bis zu Anzeichen eines Hochstaplersyndroms1. Wenn ich nun äußere, was für eine große Ehre für mich die Berufung in den Herausgeberkreis des Kursbuch ist, dann ist es allerdings weder das eine noch das andere. Es schwingt vielmehr ziemlich viel Biographisches darin mit. Nicht in dem Sinne, dass ich mit dem Kursbuch großgeworden wäre oder es mich durch alle Lebensphasen immer eng begleitet hätte. Ganz im Gegenteil (auch wenn ich mir das rückblickend sehr gewünscht hätte). Das Kursbuch symbolisiert für mich in seinem pointierten gesellschaftsorientierten Diskurs verschiedener disziplinärer Perspektiven vielmehr ein Ideal, das ich als ganz junger Mensch einmal hatte, dann viele Jahren mehr oder weniger verlieren musste, und jetzt in umso größerer Dankbarkeit wieder verfolgen darf.
Was die eine oder andere Leserin überraschen mag, ist: Ich bin in meiner Hauptdisziplin Naturwissenschaftlerin. Seit meinem Physik-Diplom im Jahr 2008 bis Anfang 2017 habe ich astrophysikalisch geforscht. Astrophysik ist in den meisten Hinsichten das Gegenteil von gesellschaftsrelevant, und für meine Forschungsergebnisse — die Wichtigkeit von Staub für die Eigenschaften von Stoßwellen wie sie etwa von Supernova-Explosionen ausgelöst werden oder die Entdeckung eines mutmaßlichen vergangenen Strahlungsausbruchs des Protosterns IRAM 04191 — können sich wahrscheinlich weltweit höchstens einige Dutzend Menschen von Herzen begeistern. Naturwissenschaftliche Forschung bedeutet viele Stunden einsamer und im besten Fall doch freudvoller Laptop-Arbeit. Man programmiert numerische Modelle und analysiert komplexe Datensätze, fährt dann als Astronom auch gelegentlich zu Teleskopen und auf Konferenzen, wo man andere Astronomen trifft, die an sehr ähnlichen Dingen arbeiten. Die starke thematische Fokussierung liegt in der Natur der Sache, der Publikationsdruck für junge Wissenschaftler ist enorm, die Vertragslaufzeiten sind kurz. Dass ich neben meiner astrophysikalischen Forschung auch in der Wissenschaftsphilosophie publizierte, war exotisch. »Mit deinen wissenschaftsphilosophischen Nebenprojekten machst du dich in Berufungskommissionen immer auch angreifbar«, hatte mir einmal ein wohlmeinender Professor mit auf den Weg gegeben. Ich war in einem zum Kursbuch-Anspruch senkrecht ausgerichteten Paralleluniversum gelandet.
Als ich mit dem Physikstudium an der TU-Berlin 2001 begann, hatten wir Studentinnen noch die Welt im Ganzen im Auge und die ehrgeizigsten Ziele, wie wir auf sie einwirken wollten. Dafür erschien es genauso relevant zu klären, ob die Realität letztendlich nur aus Information besteht und was die Quantentheorie für die Willensfreiheit bedeutet, wie uns streikend für eine bessere Bildungspolitik einzusetzen. Fünfzehn Jahre später fand ich mich umgeben von Kollegen, in deren Regalen nicht Popper oder Kant, sondern die aktuellen Conference Proceedings neben dem “Python Cookbook” standen. Donald Trump war gerade gewählt worden, die Welt von aufflammender Wissenschaftsskepsis und Wellen von Missinformation erschüttert. Für mich ergab sich unerwartet die Möglichkeit, den akademischen Karriereweg zu verlassen und Wissenschaftsredakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu werden. Ich sagte zu. Zwei Jahre später zeigte sich, dass das Verständnis komplexer nichtlinearer Modelle und eine Kenntnis der vielfältigen potentiellen Fallstricke der Datenanalyse tatsächlich gesellschaftlich höchst relevante Kompetenzen sind, die auch auf den Titelseiten der Zeitungen ihren Platz haben — und dass die Pandemie nicht die letzte Gelegenheit gewesen sein wird, naturwissenschaftliche Sichtweisen in den interdisziplinären Diskurs einzubringen.
Gesellschaftlich relevante Wissenschaft ist heute komplex, sie generiert Wissen unter Unsicherheit2. Das ist kein Mangel, sondern ein nicht zu eliminierender Teil der Forschung. Dort nimmt der Umgang mit Unsicherheit heute mindestens so viel Raum ein wie die Formulierung präziser Ergebnisse im klassischen Sinne. Dieses Charakteristikum moderner Forschung widerspricht aber dem traditionellen Bild von Wissenschaft als einer Art von Wahrheitsgenerator, wie es oftmals noch heute in der Öffentlichkeit existiert. Eine zentrale Herausforderung von Wissenschaftskommunikation ist daher, einen Weg zu finden, weder Forschung als Produktionsstätte sicherer Fakten zu beschreiben, noch den Eindruck zu erwecken, die Unsicherheiten dominierten alles andere und wissenschaftliche Ergebnisse seien als soziale Konstrukte weitgehend beliebig. Die Pandemie hat die Wichtigkeit dessen deutlich gezeigt. Die Frage, wie politische Entscheidungen zu rechtfertigen sind, obwohl sich unser Wissen über die Pandemie täglich änderte und nie ein abschließender Grad von Sicherheit erreicht wurde, dominierte seit langem die öffentliche Diskussion.
Die Pandemie hat auch gezeigt: Wenn man erklären will, wie trotz existierender wissenschaftlicher Unsicherheit belastbares Wissen generiert werden kann, dann erfordert das Vertrauen in die Kompetenz und Unabhängigkeit der Wissenschaftler. Um dieses Vertrauen aufzubauen, ist es notwendig, über wissenschaftliche Methoden zu sprechen. Sich zu fragen, wie Forscher Statistik betreiben, wie sie aus Modellen belastbare Aussagen ableiten, obwohl alle Modelle Vereinfachungen, Näherungen und Idealisierungen beinhalten. Man muss transparent machen, wie Wissenschaftler zu einem wissenschaftlichen Konsens gelangen, und warum ein solcher Konsens keine mysteriöse Gleichschaltung bedeutet. Man muss natürlich auch darüber reden, welche Rolle normative Urteile jenseits wissenschaftlicher Objektivität spielen. Und schließlich muss man verständlich und ohne Eitelkeiten Phänomene und Sachverhalte erklären. Mit der angemessenen Vereinfachung und der notwendigen Komplexität. Die Pandemie hat uns Wissenschaftsautoren viele Hausaufgaben aufgegeben. Sie hat gezeigt, dass der erfolgreiche Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Gesellschaft höchst demokratierelevant ist, weil er die Grundlage dafür schafft, dass wir uns den vielfältigen Herausforderungen stellen können, die die kommenden Jahre für uns bereithalten.
Das Kursbuch war für mich immer ein Symbol für diejenige gesellschaftsorientierte transdisziplinäre Perspektive gewesen, die ich mit meinem philosophisch-physikalischen Fachwissen eigentlich erreichen wollte. In den vergangenen Jahren habe ich sie begeistert, und endlich ohne schlechtes Gewissen, aufgesogen. Und dass ich jetzt mithelfen darf, die natur- und lebenswissenschaftliche Perspektive im Kursbuch-Diskurs weiter zu stärken, das ist vor diesem Hintergrund tatsächlich eine sehr große Ehre.
(1) Siehe Kursbuch 199, Unglaubliche Intelligenzen, “Kampf der Egos”
(2) Und zwar nicht nur in einem statistischen und damit mathematisch gut beschreibbaren Sinn sondern auch in einem tiefgreifenderen Sinn der Ungewissheit als Einfluss unbekannter Unbekannter.
Sibylle Anderl
Montagsblock /140, 04. Oktober 2021