Montagsblock /139

Zum Geschäft der Kursbuchherausgeber gehören sowohl die Akquise von Autorinnen und Autoren als auch die Verständigung mit diesen über den jeweiligen Beitrag, dessen Stoßrichtung und Charakter – und nicht zuletzt, dafür zu sorgen, dass der Beitrag auch rechtzeitig ankommen möge. Das ist manchmal nicht ganz einfach, manchmal aber schon, und die Korrespondenz mit unseren Autorinnen und Autoren gehört mit zum Interessantesten, was mit dieser Aufgabe verbunden ist.

Dass sich die Zeitläufte freilich ändern, zumindest ist das meine und auch Peter Felixbergers Erfahrung, lässt sich dem Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno aus den Jahren 1965 und 1966 über einen Beitrag entnehmen, zu dem der potentielle Autor, Adorno nämlich, zunächst den Herausgeber des Kursbuchs angeregt hatte, und den der Herausgeber Enzensberger später mehrfach wieder ins Gespräch brachte. Der potentielle Autor freilich zierte sich auf eine Weise, die heutigen Autorinnen und Autoren wohl nicht mehr zur Verfügung steht. Aus dem Beitrag ist nie etwas geworden. Der Briefwechsel wurde jüngst von der Zeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlicht, die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat ihn am 3. September 2021 dokumentiert.

Adorno hatte im September 1965 angeregt, das Kursbuch möge eine Kritik des Godesberger Programms der SPD erwägen – zunächst betont er, „daß eine solche Arbeit, wenn sie von mehreren getan wird, manche Vorzüge vor einer individuellen“ habe. Doch dann fällt dem Philosophen auf, dass die Annotationen in dessen Exemplar „eigentlich schon dem Entwurf einer solchen Sache entsprechen“. Das ist eine wunderbare Bewerbung um die Sache, die sich aber eher von selbst aufdrängt, als dass man sie extra begründen müsste. Die Annotationen machen gewissermaßen den Eindruck, als habe sich die Kritik dieses SPD-Programms selbst, gleichsam epiphanisch Bahn gebrochen.

Dass sich hier eine geradezu geschichtsmächtige Chance auftut, ist dem Kursbuchherausgeber sofort klar, der postwendend Nägel mit Köpfen zu machen versucht, indem er nicht nur zur Eile ruft, sondern auch die Offenbarung wahrzunehmen bereit ist, die sich mit des Philosophen Anregung ergibt: „dies aber vermögen nur sie allein. die vorarbeit dazu ist schon getan.“ Allein, der Philosoph lässt sich nicht drängen und gibt zu bedenken, dass wichtige sachliche Gründe einer schnellen Fertigstellung im Wege stehen – „eine höchst verantwortliche und wichtige Sache“, die vorher zu erledigen sei, lässt ihn nicht gleich zuschlagen. Außerdem bekennt Adorno, er sei „ein langsamer Arbeiter“, so dass er die Sache nicht übers Knie brechen könne. Noch wichtiger aber dies: „Über einem solchen Text liegt der Riesenschatten der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ von Marx, und ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten, wenn ich hinter diesem Vorbild nicht zurückbleiben möchte.“ Adorno möchte sich keinesfalls „dem Spott und der Widerlegung aussetzen“, weswegen es dauern könne, bis zum Frühjahr mindestens.

Der Herausgeber nimmt das als Zusage – zumindest bedankt er sich in diesem Sinne – und macht im April 1966 wieder einen Anlauf. Der Philosoph entschuldigt sich, er sei mit seiner „Negativen Dialektik“ nicht weit genug gekommen. Außerdem gibt er noch zu bedenken, dass die Sache auch ein „Politicum“ sei – angesichts der Angriffe von rechts sei es vielleicht nicht angemessen, eine allzu prominente Kritik der SPD zu formulieren. „Ich hoffe, daß Sie darin nicht den Ausdruck von Opportunismus sehen, sondern den des einfachsten Verantwortungsgefühls.“

Letztlich kommt es nicht zu einer Einigung zwischen Herausgeber und potentiellem Autor, auch wenn ersterer schon zu Beginn des Briefwechsels betont: „verzeihen sie meine ungeduld: es ist aber nicht ein redakteur, der hier drängt, es ist die sache selber.“ Das hört sich fast nach geschichtsphilosophischer Wucht an – die Sache selbst strebt zur Verwirklichung, der Redakteur kann nur mäeutische Aufgaben erfüllen, nein, er muss. Aber der Autor der „Negativen Dialektik“ lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, so dass die Kritik des Godesberger Programms im Sand verläuft – mit historischen Folgen, wie wir Nachgeborenen wissen.

Sicher hätte es Adorno gefallen, wenn nun in diesem Montagsblock gesagt worden wäre, wie sehr die SPD jene Kritik gebraucht hätte – aber vielleicht wäre Olaf Scholz nicht jener unerwartet lachende Dritte, als der er sich am Ende dieser Woche herausstellen könnte, wenn Adorno weiland eine Kritik am Godesberger Programm formuliert hätte, die Marxens Kritik des Gothaer Programms noch übertroffen hätte. Wir werden es nie erfahren.

Was sich jedenfalls geändert hat, ist, dass sich im Kontakt mit Autorinnen und Autoren heutzutage viel seltener geschichtsphilosophische Wucht oder gar ein Zeitfenster für eine Offenbarung auftut. Aber wir haben es auch nicht mit Leuten zu tun, die eine negative Dialektik schreiben oder die sich als Licht im Schatten von Vorgängertexten stilisieren, die zu übertreffen auch eine negative Dialektik nicht in Frage stellen könne. Solche Sprecherpositionen gibt es aus guten Gründen nicht mehr.

Was ich mir aber ausbedingen möchte, ist durchaus, jenen wunderbaren Satz von Enzensberger einmal in meine eigene Autorenkorrespondenz zu schmuggeln, mit der dieser Adorno (vergeblich) zu überzeugen versuchte: es dränge nicht ein Redakteur oder ein Drucktermin, sondern die Sache selber.

Armin Nassehi, 20. September 2021