Montagsblock /138

Der Sommer neigt sich dem Ende, die nahe Zukunft fuchtelt Joe Cocker-like herum. Virus tunnelt Forscher. Wahlplakat umarmt Hoffnung. Kandidat(in) sucht Couch. Das Unerwartete erwartet uns. Gut so, denke ich mir beim letzten Blick aufs Meer. Das Leben ist ja nur eine lange Reise durch fremde, bisweilen rätselhafte Ereignisräume, die man betreten, durchschreiten und für die man einen Ausgang suchen, sprich eine Lösung finden muss. Der erste Schultag, die erste Freundin, der erste Urlaub alleine, die nächste Bundestagswahl – die Liste zieht sich kaugummibiografisch bei jedem anders in die Länge.

Eine Erkenntnis hat sich jedoch bei mir festgesetzt: Immer, wenn ich mich auf das Fremdartige einer neuen Situation oder eines neuen Menschen einlasse, werde ich belohnt. Warum? Nun, ich fühle mich danach souveräner und gelassener, wenn ich die Ängste, die jeweils damit verbunden waren, hinter mich lassen und auflösen konnte. Oder wenn ich sie bei einem anderen Menschen kennenlernen durfte. Ich habe etwas Wichtiges gelernt, auf das ich fortan zurückblicken und vor allem zurückgreifen kann. Ich kann sogar gedanklich dorthin zurückkehren, um Kraft aus dem Ereignis zu schöpfen. Belohnt werde ich eigentlich nur, wenn ich mich diesbezüglich fordere.

Aufschrei von der anderen Seite des Flusses! Dort fühlt man sich in dieses Spiel des Lebens nicht zugelassen oder integriert, man kann und will teilweise überhaupt nicht in diesen Überforderungszonen lernen und leben. Keine Zeit, Rückzug – gezwungen oder ungewollt. Man igelt sich ein oder wird in eine Sicherheitszone eingeigelt, man betäubt sich und wird betäubt, man wird in starren Tagesverläufen hypnotisiert und verliert das große Ziel des Humanismus aus den Augen: durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden selbst jener Mensch zu werden, der in einem angelegt ist. Die dazugehörigen Lernaufträge verdörren in der unwirtlichen Sicherheitswüste, obwohl sie nur darauf warten würden, aufgeweckt sowie be- und abgearbeitet zu werden. So plätschert das Leben bisweilen unerfüllt dahin. Am Ende hat man es größtenteils verpasst. Die Multioptionsgesellschaft verdunstet.

Stellt sich die Frage: Was kann man tun, wenn man vor dem Neuen, vor Veränderung und Selbsterkundung Angst hat oder verängstigt wird? Diese Frage scheint auf den ersten Blick leicht beantwortbar. Man muss unter anderem permanent Desensibilisierungsarbeit leisten. Die zugrunde liegende Bewältigungsstrategie: Die Furcht wird weniger, wenn man sich verstärkt dem Bedrohlichen aussetzt und damit seine Angst scheibchenweise abbaut. Irgendwann erreicht man dann die Stufe, wenig bis keine Angst mehr zu haben. Aber völlig angstfrei leben kann in letzter Konsequenz kein Mensch. Und zwar lebenslang. Es gibt keinen Ausweg. Jeder absolviert seine Angstreisen immer in der Hoffnung, die Angst würde verschwinden. Dies ist das Paradoxon in jeder Selbstentfaltungslinie oder Lebensreise.

Dennoch können wir gegen die Angst vor dem Neuen etwas tun. Zuerst einmal ganz banal die persönliche Erwartungshaltung in den Griff bekommen, unbedingt und sofort glänzen zu müssen. Immer eine kompetente Antwort zu haben, gescheite Fragen und Bezüge zu finden, in wohlgesetzten Worten auszuformulieren und selbst als gescheiter Akteur zu brillieren. Nein, es hilft oft mehr, dem anderen Raum lassen, sich zu entfalten und bedeutend größer zu werden. Das ist nicht immer leicht, weil man ja selbst so gescheit ist und zu allem Möglichem etwas zu sagen hat. Diese Demutsübung, den anderen glänzen und gleichzeitig wachsen zu lassen, ist für mich eher Bereicherung und Ansporn. Es hat mich überdies gelehrt, einfach mal die Schnauze zu halten, wenn ich keine Ahnung habe. Zu beobachten, wie das und der Fremde sich Raum schaffen. Womöglich kompetenter, komplexer und erfolgreicher.

Deshalb, so wissen wir das aus der neueren Managementtheorie in den USA, sollten zwei Voraussetzungen, und jetzt kommt der kleine Ratgeberteil dieses Textes, befolgt werden: Richten Sie ihre Aufmerksamkeit eher auf Ihre Fehler als auf Ihre Erfolge! Schrecken Sie vor grob vereinfachenden Interpretationen zurück!

Womit ich wieder bei meinem kleinen Ausgangsthema bin: Wie bleibe ich in der unerwarteten Fremde der nahen Zukunft authentisch? Hilfreich scheint mir, wenn man seine kulturelle und persönliche Basisprogrammierung nicht verleugnet. Wieso auch? Ich zum Beispiel habe von Natur aus Angst vor persönlicher Veränderung und Selbsterkundung. Aber mein ganzes Leben tue ich nichts anderes, als mich vielen dieser möglichen Angsträume auszusetzen. Denn erst wenn man tatsächlich viel (falsch) macht – und einen nicht bloß die Vorstellung darüber peinigt –, kann man authentisch darüber reden. Einfach nur zu reden, ohne viel (falsch) gemacht zu haben, ist belanglose Plauderei.

Peter Felixberger, Montagsblock 138