Vielleicht sind die sozialen Netzwerke vor allem ein Archiv für Stilfragen – und wenn man genau hinschaut, scheinen gerade dort Missgunst, üble Nachrede und die eher wenig subtile Beleidigung verbreitete Stilmittel zu sein. Man kann es sich leicht erklären: die Niedrigschwelligkeit des Zugangs, manchmal die Anonymität, aus der heraus gesprochen wird, in jedem Fall aber die Unterstellung eines positiven Resonanzbodens noch für die negativsten Stilmittel. Dazu gehört sicher auch die merkwürdige Vergesslichkeit dieses Mediums, die direkt proportional mit der Geschwindigkeit und Gegenwartsorientierung des dortigen Geschehens zu tun hat. Twitter etwa ist ein radikales Gegenwartsmedium – etwas geschieht, hat mehr oder weniger retentionale Folgen und verschwindet wieder unter der Oberfläche neuer, nachkommender Gegenwarten. Das Merkwürdige daran ist, dass das permanente Vergessen mit einer Archivierung kombiniert wird. Man könnte, wenn man wollte, all die Gegenwarten wiedererstehen lassen, weil eben alles gespeichert wird. Man könnte also, wollte man es wirklich, in diesem Medium wissen, was man vergessen hat.
Und vielleicht ist gerade diese radikale Gegenwärtigkeit dieses Mediums der Grund dafür, dass es als dokumentarisches Archiv für Stilfragen verwendet werden kann. Und vielleicht ist Twitter das authentischste Medium überhaupt, weil es in je gegenwärtigen Ereignissen nicht damit rechnet, dass die Sache zeitstabile Spuren hinterlässt. Etwas mit Tinte in einen Brief oder mit Druckerschwärze in ein Buch oder auch mit einem ASCII-Code in einen Blog zu schreiben, trägt das Risiko der Zeitfestigkeit. Man kann es wiederlesen, es kann dem Autor oder der Autorin vorgehalten werden, diese können sich sogar davon distanzieren. All das kennen die Gegenwartsmedien der sozialen Netzwerke nicht. Hier bricht sich Bahn, was gerade geschieht. Und vielleicht kommt man gerade an diejenigen Sinnverweisungen heran, die nicht bereits durch den Durchlauferhitzer der Reflexion, besser: der Proflexion gegangen sind. Sie sind pures Es geschieht.
Bei Olympia haben wir es letztens mitbekommen, als ein Fahrradtrainer seinen Schützling aufforderte, die vor ihm fahrenden „Kameltreiber“ einzuholen – Radfahrer aus einem arabischen Land waren damit gemeint. Die spätere Entschuldigung lautete, im Eifer des Gefechts sei dem Trainer „rausgerutscht“, was er sonst niemals sagen würde – was mindestens eine vergiftete Entschuldigung ist. Es zeigt ja, wieviel kognitive Energie oder wenigstens soziale Erwartung nötig gewesen wäre, dass dem Trainer nicht rausrutscht, was offensichtlich zumindest als unmittelbare Sinnverweisung da ist, aber sonst eher abgeschattet bleibt.
So ähnlich ist der Versuchsaufbau bei Twitter. Es ist eher ein Rausrutschmedium als ein Ort der gediegenen proflexiven Rede – und deshalb ist es das vielleicht beste Stilarchiv, das man sich denken kann. Hier spricht es selbst, hier wird das Gesprochene seltener durch soziale Vorsicht oder Sorge vor unmittelbarer Reaktion des Gegenübers gehemmt. Stil ist ja viel weniger Programm und Plan als Habitus und Ereignis. Stil entsteht in der konkreten Gegenwart – und insofern passt die Charakterisierung mit dem Stilarchiv. Das ist übrigens gar nicht kulturkritisch gemeint oder mit dem Vorwurf der uneigentlichen Rede versehen – ganz im Gegenteil. Wenn es Twitter nicht gäbe, müsste man es genau dafür erfinden. Auf Twitter stehen viele ähnlich am Rand des Geschehens wie der unglückliche Trainer und greifen auf die gerade naheliegendste Sinnverweisung zurück.
Eigentlich soll die lange Rede nur dabei helfen, eine Frage zu beantworten. Vor allem auf Twitter (aber nicht nur da) findet man immer öfter überschwängliche Charakterisierungen von Kollegen und Kolleginnen, von Leuten, die man preisen will, von solchen, die man erwähnen muss oder mit denen man sich gerne umgeben möchte. Dieser Überschwang ist ein merkwürdiger Stil. Es soll vielleicht ein wenig nach amerikanischer sprachlicher Übertreibung zwischen „wonderful“, „exciting“, „outstanding“, „great“ und „marvelous“ klingen, ist aber auf Deutsch noch etwas komischer. Und ich habe mich das schon länger gefragt: Warum machen die das? Warum sind die Leute tatsächlich immer großartig, wundervoll, toll, klug (sehr beliebt gerade), brilliant, einzigartig usw.? Selbst die inflationäre Verbreitung solcher Attribute scheint ihrem Wert nichts anzuhaben (vielleicht weil sie gar keinen Wert haben). Ich wundere mich jedenfalls immer wieder und denke: vielleicht wollen sie es sich schön machen (wofür die netten Emojis sprechen und manches neckisches Symbolbildchen), und vielleicht hilft es ein wenig, von dem Glanz abzubekommen, den man anderen hinterherwirft. Great and exciting explanation, isn’t it?
Ich lese es jedenfalls immer amüsiert (und zugleich ein wenig abgestoßen), machte mir aber bisher keinen weiteren Reim darauf. Bis vor ein paar Tagen ein Journalist twitterte:
„Frage mich immer, was einen Menschen in Wahrheit veranlasst, vom ‚großartigen‘ Kollegen XY oder von der ‚tollen‘ YZ zu schreiben?“ Es ist die Frage, die sich mir auch aufdrängte. Aber er versucht tatsächlich eine Antwort: „Hass?“ Warum Hass? Widerspricht es doch meiner These, dass das Gegenwartsmedium eher unreflektiert, eher spontan, also eher wie der Fahrradtrainer reagiert? Ist es umgeleiteter Hass? Also der Versuch, Hass zu verdecken? Durch Umkehrung der Attribute?
Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich nehme eher an, dass es eine soziale Funktion hat. Es schließt die bezeichnete Seite ein – ist doch schön, in einer Bubble mit so vielen wundervollen und brillianten Leuten zu sein. Und vielleicht ist es dann eher Selbsthass oder wenigstens Selbstzweifel, weil das Wundervolle semantisch so hervorgehoben werden muss, dass offensichtlich berechtigte Zweifel daran sich verflüchtigen – oder erst recht sichtbar werden. Also Hass – das glaube ich nicht. Oder ist es nur Getue?
Naja, es geht gar nicht um die Frage, es geht eher darum, dass die Flüchtigkeit des Gegenwartsmediums offensichtlich doch dazu taugen kann, Stilfragen zu behandeln. Vielleicht könnte man sagen: Der Stil zeigt sich darin, dass er einerseits identifizierbar ist, andererseits vom Medium vergessen werden kann, denn das ist ja die Voraussetzung für diese Art der Kommunikation: dass sie ereignishaft verschwindet und keine großen Folgen hat. Und genau hier blitzt auf, was an Stil sichtbar wird, wenn man sich nicht auf die zivilisierte Form der durch reflektierende/proflektierende, kognitive Hemmung produzierten Erwartbarkeiten verlassen will. Vielleicht ist es nur die andere Seite von Missgunst und wenig subtiler Beleidigung, dem Co-Twitterer solche Attribute hinterherzuwerfen. Niedrigschwellig, bedeutungslos, popkulturell, glitzernd und doch sozial inklusiv. Für alle Beteiligten. Exciting, oder nicht?
Armin Nassehi, Montagsblock /137