Montagsblock /136

Nehmen wir mal – ganz fiktiv – folgende Konstellation an: In einem Land in der Mitte eines Kontinents herrscht große Verwirrung. Die Regierung ist stark mit sich selbst beschäftigt, so dass viele der notwendigen Veränderungen nicht angegangen werden oder auf der Strecke bleiben. Die Bürger wiederum glauben, dass die Folgen politischer Entscheidungen sowieso undurchsichtig seien und mehr oder weniger über sie hinwegrollen. Manche verhalten sich neutral zustimmend, einige stimmen trotz innerer Kündigung noch halb zu, andere denken quer und gehen in den Widerstand und wieder andere verlassen das sinkende Schiff.

Nehmen wir nun etwas weniger fiktiv an: In diesem Land stehen demnächst Wahlen an. Es gibt drei KandidatInnen, die sich um das Amt des Regierungschefs bewerben. Der erste, ein Mann um die 60, ist ein Mann der bewährten Ordnung. Seine strategische Ambition besteht darin, in kleinen Schritten das Land so zu verändern, dass alles beim Alten bleibt. Stark in der Gegenwart. Mit dem Leistungsversprechen: „Gemeinsam machen“. Eine große Sowohl-als-auch-Kraft solle die Menschen zusammenführen, egal was komme. Die zweite Bewerberin, eine Frau um die 40, ist eine Frau des unsicheren Aufbruchs. Ihre strategische Ambition besteht darin, in großen Schritten das Land so zu verändern, dass die Jungen bleiben. Stark in die Zukunft gerichtet. Mit dem Leistungsversprechen: „Bereit, weil ihr es seid.“ Eine große Entweder-oder-Kraft solle die Menschen in die Zukunft führen, damit nicht komme, was sonst am Horizont drohe. Der dritte, ein Mann um die 63, ist ein Mann des bewährten Stillsitzens. Seine strategische Ambition besteht darin, im gemäßigten Tempo das Land so zu verändern, dass keiner aus dem Sessel fällt. Stark in der Vergangenheit. Mit dem Leistungsversprechen: „Für Dich.“ Eine mittelstarke Sowohl-oder- entweder-als-auch-Kraft solle die Menschen in den sicheren Hafen führen, in der keine Bedrohung mehr lauere.

Nehmen wir jetzt gar nicht mehr so fiktiv an: Zwei Naturkatastrophen zeigen den Bewohnern des Landes, dass sowohl Gegenwart als auch Zukunft auf dem Spiel stehen, wenn es so weiterginge wie bisher. Katastrophe 1 ist ein eher mittelklassiges Virus, das jedoch ein globales Pandemie-Monopoly in Gang setzen kann. Seine strategische Ambition besteht darin, von Mensch zu Mensch zu hüpfen und deren Widerstandskraft zu überprüfen. Alle Kraft für den einen Augenblick. Mit dem Leistungsversprechen: „Gemeinsam bereit für Dich.“ Eine große Alles-oder-nichts-Kraft führt die Menschen an die Klippe des Todes. Katastrophe 2 ist eine Hochwasserflut nach Dauerregen, der aus der von Menschen verursachten Klimaveränderung herrührt. Ihre strategische Ambition besteht darin, von Haus zu Haus zu rauschen und selbst darin Wohnende wegzureißen, weil im Weg stehend. Nichts und niemand kann sich widersetzen. Mit dem Leistungsversprechen: „Gemeinsam bereit nützt Euch gar nichts mehr.“ Wütende Wasserkraft bricht jeden Stein und begräbt alles Menschliche unter sich.

Nehmen wir wieder fiktiv an, wer die Wahl gewinnen könnte. Kandidat 1 harmoniert am besten mit Katastrophe 1. Wenn das Virus besiegt ist, können wir wieder zur Normalität der bewährten Ordnung zurückkehren. Die Metapher ist der Anker in einer aus den Fugen geratenen Welt, an dem sich jeder festhalten kann. Nicht ganz so gut klappt das zwischen Kandidat 1 und Katastrophe 2. Der Alles-oder-nichts-Kraft kann er wenig entgegensetzen. Es fehlt ihm der große, mutige Gegenentwurf. Hier zeigt sich Kandidatin 2 wesentlich besser vorbereitet. Sie ist bereit, von der dunklen Gegenwart in die helle Zukunft zu navigieren. Ihre Metapher ist die Arche, die in tosendem Wasser alle Stürme übersteht und die Lebewesen einander wieder näherbringt. Mit Katastrophe 1 kann Kandidatin 2 wiederum nicht so perfekt anbandeln, denn das Virus entzieht sich geschickt der Drohkulisse des Zukünftigen und beharrt auf der Inzidenzmathematik des Augenblicks. Niemand ist so richtig für die Virusvarianz bereit und verdreht die Augen, wenn er oder sie an die Postpandemie denkt. Kandidat 3 hätte jetzt alle Chancen, doch diese zerrinnen ihm zwischen den Fingern. Sein Leistungsversprechen wirkt überzogen. Mit strikter Allmachtsfantasie gibt er vor, alle Katastrophen lindern und aushalten zu können. Keine Bedrohung ist ihm zu groß. Seine Metapher ist ein Adler, der hoch oben über der Menschheit wacht und im Augenblick der Gefahr seine schützenden Flügel ausbreitet. Das aber nimmt ihm niemand so richtig ab, so dass der Adler irgendwann abdrehen muss, weil er sonst genauso in den Katastrophen abstürzt und unterzugehen droht.

Hier die erste Hochrechnung: Die Wahl gewinnt vermutlich Kandidat 1, der mit Kandidat 3 koalieren wird. „Gemeinsam für Dich etwas richtig machen“ ist die semantisch wirksamste Beruhigungspille im Katastrophenwirrwarr. Der Anker signalisiert das starke Fundament, der Adler hat darauf ein wachsames Auge. Kandidatin 2 kann unterdessen nur in ihrer Arche verharren und auf eine goldene Zukunft nach den Katastrophen verweisen. Das finden zwar viele Mitreisende plausibel, aber nicht genügend viele. In der Arche wird deshalb heftig diskutiert, warum die Menschen wieder so richtig falsch gewählt haben. Der Anker nimmt zwischenzeitlich auf der Regierungsbank Platz, der Bundesadler wacht im Hintergrund. Alle nicken wieder ein. Wir schalten zurück in die Realität.

Peter Felixberger, Montagsblock/136