Montagsblock /135

Wir müssen einmal über „Um-zu-Motive“ reden. Und zwar wegen Corona. Wegen der Nachwehen. Oder sind es nur Zwischenwehen? Wegen Corona jedenfalls. Der Begriff stammt aus der verstehenden und phänomenologischen Soziologie und wurde das erste Mal in dem frühen Werk von Alfred Schütz aus dem Jahre 1932 angewandt, das bezeichnenderweise Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt heißt. Schütz hat sich für menschliche Handlungen interessiert und für die Frage ihrer Motive. Dabei geht es nicht nur um die Frage, was die Menschen tun, nicht einmal nur darum, warum sie es tun, sondern wie Motive zustandekommen. Man kann nur die Handlungen sehen, also die Resultate des Handelns, die dahinterliegenden Motive aber nicht. Diese werden zugerechnet. Schütz hat sich vor allem dafür interessiert, dass Motive nicht positiv vorliegen, man kann sie nicht erkennen und wahrnehmen, sondern muss sie unterstellen. Das gilt schon für die eigenen Motive, aber für die der anderen erst recht. Sieht man sich die Handlungen anderer an, sieht man die Resultate, nicht die Motive selbst. Für Schütz spielte diese Frage vor allem im Rahmen seiner Kritik an Max Weber eine Rolle, aber das soll hier nicht weiter interessieren (auch wenn es insofern eine Verbindung gibt, als Max Weber höchstwahrscheinlich 1920 an den Folgen einer Erkrankung im Rahmen der Pandemie der Spanischen Grippe verstorben ist, aber das wäre sehr weit hergeholt, deshalb in Klammern).*

Schütz unterscheidet grob „Um-zu“- und „Weil“-Motive. Die Letzteren sind Motive, die eher auf Gründe biographischer oder situationaler Art zielen, so etwa: Ich habe ein Eis gekauft, weil die Kugel nur einen Euro gekostet hat (war also kein Eis in München). „Um-zu“-Motive gehen so: Ich habe 1.50 Euro mitgenommen, um mir ein Eis zu kaufen. Der Handlung selbst kann man beides nicht ansehen – es muss erschlossen, zugerechnet, unterstellt werden. Da solche Motive nicht einfach vorliegen, ist die soziale Welt voller Missverständnisse und Unschärfen.

Was hat das aber mit Corona zu tun? In der letzten Zeit häufen sich Fälle (keine Sorge: nicht Infektionsfälle), in denen eine merkwürdige Generalisierung von Verdacht vorgenommen wird. Man unterstellt „Um-zu“-Motive, als hafteten diese direkt an den Handlungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein schönes Dokument ist ein vor wenigen Tagen veröffentlichter Aufruf, in dem eine Gruppe von „Experten“ um die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot einen interessanten Vorschlag macht, nämlich den Vorschlag einer „Aussöhnung“ zwischen den streitenden Lagern der öffentlichen Corona-Debatte (www.coronaaussoehnung.org). Das ist eine gute Idee – bis man das Papier gelesen hat. Hier wird eine recht dezidierte Position vertreten, die als die andere Seite der eigenen Position fast alles von „Zero-Covid“ bis zu regierungsamtlichen Positionen in einen Topf wirft, um dies dann der eigenen Position gegenüberzustellen.

Eine Versöhnungsgeste kann ich darin nicht erkennen, weil das Papier letztlich alles weiß, und das in einer ganz bestimmten Art und Weise, gerne auch gewürzt mit deutlichen Spuren von Selbstviktimisierung. Kann man machen, ist völlig okay. Und ich will nicht auf all den Kategorienfehlern herumreiten, die die Initiatorin gerne zum Besten gibt (ich hatte letztens das Vergnügen, mit ihr zu diskutieren).

All das ist eigentlich langweilig – interessanter ist die Frage, wie dort Oppositionen, Sprecherpositionen und Argumente aufgebaut werden. Dass über die angemessene Strategie diskutiert werden muss, dass Vieles offen ist, dass Fehler gemacht wurden, dass es Lernprozesse gegeben hat und sicher auch mehrere Wege, die zu Lösungen führen, ist unbestritten und muss aufgearbeitet werden. Man muss in der Tat darüber nachdenken, warum die Dinge so gelaufen sind, wie sie gelaufen sind. Man müsste, wenn man sich schon bei Motiven aufhält (es gibt noch ganz andere Gründe als Motive, aber das steht auf einem anderen Blatt), vor allem nach „Weil“-Motiven fragen, vor allem, wenn man über Sachfragen diskutieren will. Aber dieses Versöhnungsangebot ist offensichtlich an dem anderen Typus von Motiv interessiert.

Die schon erwähnte Politikwissenschaftlerin lässt sich als Kommentar zu dem Aufruf in der Berliner Zeitung mit der Einschätzung zitieren, das Virus dürfe „nicht zum Vorwand genommen werden, um unsere Rechtsordnung zu verschieben“, es müsse „einen Raum für legitime Kritik“ geben und man dürfe Kritikern nicht „grundsätzlich unterstellen, von niederen Motiven geleitet“ zu sein. Abgesehen davon, dass viele Kritiker angeblicher Sprechverbote dafür durchaus prominente Foren erhalten, ist sehr interessant, wie die Motiv-Unterstellung verläuft. Es gilt als ausgemacht, dass die angebliche (sic!) „Verschiebung“ der Rechtsordnung sich nicht als Folge, womöglich sogar als Nebenfolge einstellt, sondern dass das Virus ein „Vorwand“ sei, um Kritiker mundtot zu machen und die Gesellschaft ihrer Freiheitsmöglichkeiten beraubt. Das ist ein klassisches „Um-zu“-Motiv, also eines, das unterstellt, dass die kritisierten Maßnahmen explizit dazu dienen sollen, die Rechtsordnung zu verschieben. Diese wären dann keine Folgen, sondern sie wären das Ziel der Maßnahmen. Das ist ein ganz anderer Verdacht als derjenige, dass es Dissens über Maßnahmen gibt, die miteinander versöhnt werden sollen. Gesagt wird das nicht direkt, aber performativ unterstellt schon, zumal der Hinweis auf 11 „Unverhältnismäßigkeiten“ und 16 „Ungereimtheiten“ genau das insinuiert, eine Hermeneutik des Verdachts. Solch ein Vorgehen korrumpiert performativ das, was als eigenes Motiv unterstellt wird. Es geht überhaupt nicht um die Pandemie und ihre Folgen, sondern um deren Instrumentalisierung – und der Vorwurf fällt auf die Protagonisten zurück, denn sie instrumentalisieren selbst die Pandemie für einen ganz anderen Verdacht.

Zumindest werden die Sachfragen nach der richtigen Strategie zur Eindämmung des Virus, nach der Abwägung zwischen den Folgen des Infektionsgeschehens und den Folgen der Gegenmaßnahmen, nach den angemessenen Formen der Steuerung, auch nach der Frage der Zurechnung und Toleranz Risiken gegenüber von vorneherein eingeklammert – einerseits, weil dieses Gesprächsangebot die Tatsachen schon kennt, man lese es nach, andererseits, weil ganz offensichtlich den meisten Entscheidungen ein „Um-zu“-Motiv unterstellt wird, das Sachfragen letztlich aus dem Fokus nimmt.

Ich möchte nur zeigen, dass zur wissenschaftlichen Kompetenz, über die angemessene Strategie in der Pandemie und auch über die gesellschaftlichen Folgen zu räsonnieren, auch die Kompetenz gehört, sich zumindest versuchsweise auf Argumente einzulassen und Lernprozesse zu ermöglichen. Was derzeit stark zunimmt, sind Argumente, die jeden Lernprozess und jede Verständigung schon dadurch erledigen, dass sie mit Motivunterstellungen arbeiten, die man mit ein wenig Kompetenz auf dem Gebiet etwa der verstehenden empirischen Soziologie oder auch nur mit Hilfe von ein wenig Konsistenzprüfung und Textverständnis hätte vermeiden können. Immerhin stellen die Autor/innen sich ja als wissenschaftliche Experten dar, die aber schon an elementaren Bedingungen des Argumentierens scheitern. Und was hier von der „Aussetzung“ der Grundrechte, gar der Menschenrechte gesagt wird, unterschätzt nicht nur die Spannung zwischen der praktischen Konkordanz der Grundrechte gegenüber ihrer abstrakten Geltung. Sie bedient vor allem das unterstellte „Um-zu“-Motiv, vor dem alle Sachargumente in die Knie gehen müssen.

Die Protagonisten werden an solcher Kritik gemäß einer selbsterfüllenden Prophezeiung wahrscheinlich nur sehen können, dass man ihnen wieder niedere Motive unterstellt. Ich bekenne: Nein, das ist hier nicht intendiert, zumal einige der aufgeführten Sachfragen durchaus diskutabel sind. Die Unterstellung ist eine Unterstellung mangelnder Kompetenz. Denn die Idee ist gut, strittige Fragen in der Pandemiebewältigung zu diskutieren**, aber wer nicht einmal sehen kann, dass für ihn oder sie unerwünschte (angebliche) Folgen des Handelns nicht in jedem Falle identisch mit den antizipierten Motiven sind, kann sich kaum auf Augenhöhe mit dem Komplexitätsniveau des Problems bewegen. Man kann an diesem Beispiel tatsächlich sehen, dass die Pandemie gesellschaftliche Folgen auf Ebenen hat, die erst langsam sichtbar werden, auch intellektuelle.

Armin Nassehi, Montagsblock /135

* Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1981, S. 115 ff.

** Der Bayerische Ethikrat, dem anzugehören ich die Ehre habe, hat in seiner Stellungnahme vom 10.06.2021 der Bayerischen Staatsregierung die Durchführung eines bayernweiten Kongresses angeboten, auf dem die Folgen der Pandemie, die Konsequenzen für künftige Krisenbewältigung, die Polarisierung der öffentlichen Diskussion und nicht zuletzt die Frage der gerechten Verteilung von Lasten unvoreingenommen diskutiert werden können. (https://www.bayern.de//wp-content/uploads/2021/06/210610_Stellungnahme_Ethikrat_Post_Pandemie_wbm.pdf) Die Unterstellung einer intendierten und instrumentalisierenden Verschiebung der bayerischen Rechtsordnung enthält dieses Angebot nicht.